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Protestantische Theologie aus katholischer Sicht (1902)

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Das ist so recht die moderne Hof- und Unionstheologie; nicht kalt und nicht warm — Laodicaea! Man sollte sagen, es sei das natürlichste Verlangen von der Welt, daß christliche Theologen „überzeugungstreue, gläubige Bekenner“ des Christentums seien, aber darauf leistet der Evangel. kirchl. Anzeiger von vorn herein Verzicht, das ist „ein frommer Wunsch“, sagt er. Er ist mit viel weniger zufrieden, er verlangt von ihnen nur eine „ernste Haltung“; ungläubig dürfen sie dabei sein. Wenn es sich um einen Diskutier-Klub handelte, in dem die verschiedensten Meinungen entwickelt werden dürfen, könnte man am Ende darüber reden, aber ohne fest umschriebenes Glaubensbekenntnis, das für alle Gesetz ist, kann man doch kaum beanspruchen, eine „Kirche“ zu sein. Die Kirche soll die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit?" beantworten, aber nicht sagen: das lassen wir alles dahingestellt sein; darüber giebt es bei uns sehr verschiedene Meinungen; wir forschen alle selbst und vergeblich danach, die Wahrheit zu ergründen. Wie will man die Menschen leiten und trösten, wenn man ihnen sagen muß: eure Zweifel sind auch die unserigen, auch wir denken mit Dubois-Reymond: „ignoramus ignorabimus“. Der einzelne Pastor und Professor mag eine Antwort bereit halten, aber er spricht nur seine subjektive Ueberzeugung aus, mit der er vielleicht unter seinen Glaubensgenossen ganz allein steht. Der protestantische Diener am Wort kann niemals mit der Bestimmtheit wie der katholische Geistliche sagen, dies und jenes sei die Lehre „der Kirche“, er kann sich nur berufen auf seine Anschauung und die Ansicht seiner theologischen Schule oder Richtung. „Bei ihm gerät man stets ins Ungewisse", wie Goethe sagt, er spricht pro domo, aber nicht pro ecclesia. Wer sich dann mit diesen Dingen eingehend beschäftigt, mag auch dem Faust vielleicht die Worte: „und leider auch Theologie“ nachsprechen.

Dem Evangel.-Kirchl. Anzeiger genügt es aber nicht, daß er den Theologen das Recht der freien Forschung wahrt, um darauf zu wehklagen, daß „die Kirche dies unthätig muß über sich ergehen lassen“. Er legt in die Festungsmauer, die er verteidigen will, selber noch weitere Breschen, damit der Gegner sie desto bequemer stürmen kann, indem er sagt: der Staat, der die Universitäten verwalte, um Gerechtigkeit gegen die Kirche zu üben, solle dafür sorgen, daß die verschiedenen in der theologischen Wissenschaft sich bekämpfenden Richtungen gleichmäßige Vertretung finden. Das „positive“ Blatt verlangt somit, daß auch die liberalen Theologen angemessen berücksichtigt werden; wozu denn aber der ganze Lärm?! Die ganze protestantische Inkonsequenz und Halbheit wird durch nichts besser gekennzeichnet, als durch diesen Widerstreit zwischen Theorie und Praxis. Die liberalen Professoren sollen gleiche Berücksichtigung finden, aber von ihren Anschauungen keinen Gebrauch machen; man jammert entsetzlich über Zustände, welche die Kirche unthätig über sich ergehen lassen müsse, und proklamiert zugleich das Recht einer Beeinflussung des Staates, welche dessen effektive Omnipotenz in Glaubenssachen bedeutet. Das ist eine Begriffsverwirrung, welche kaum noch überboten werden kann, aber den ganzen Protestantismus in höchst treffender Weise charakterisiert. Der Evangel. kirchl. Anzeiger schreibt einerseits:

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