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Friedrich Naumann: „Was heißt Christlich-Sozial?” (1894)

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Ob die Sozialdemokratie als Partei so entwicklungsfähig ist, daß sie sich auf dem Boden dieses Antikapitalismus stellt, ist uns sehr zweifelhaft. Dazu ist sie zu stark durch ihre Vergangenheit gebunden. Hier aber liegt die Aufgabe der Christlich-Sozialen. Hier arbeitet mit uns die Stimme des Evangeliums. Was Jesus über den Mammon sagt, wird lebendig. Hier hilft vor allem die große Lehrmeisterin: die Not. Es handelt sich nur darum, de richtige Formel für die antimammonistische Stimmung zu finden. Sie scheint uns in folgendem Satz zu liegen: „Wir erkennen die Konzentration der Betriebe als notwendig an, verwerfen aber die Konzentration des Kapitals". Dieser Satz ist, wie jeder kurze Ausspruch, der Mißdeutung fähig, man kann sagen: Kapital ist ja im Grunde nichts anderes als eben Felder, Häuser, Bergwerke, Fabriken; wie wollt ihr da den Betrieb konzentrieren und nicht zugleich das Kapital? Dieser Einwand ist aber nur so lange richtig, als man eben von vornherein Kapital und Produktionsmittel gleichstellt. Wir brauchen das Wort Kapital im Sinne des Rechtsanspruches auf einen Teil der Produktion, wir verstehen unter Kapital das papierne Abbild der wirklichen Dinge, die Hypotheken, Pfandbriefe, Aktien, Schuldscheine usw., kurz das Privileg, Zinsen irgendwelcher Art zu genießen. Kapitalkonzentration heißt soviel wie Rothschild, Bleichröder und Genossen. Da nun die Konzentration nur da, wo sie in den Händen großer Unternehmer liegt (Krupp, Stumm), zugleich Betriebskonzentration ist, aber überall da, wo sie durch Bodenrente (Hypothekenzins, Mietzins) entsteht, nicht mit Betriebskonzentration verbunden ist, so ist der Kampf gegen die private Ausnutzung der Bodenrente in unseren Augen der nächste und beste Weg für den praktischen Antikapitalismus der Christlich-Sozialen. Ohne von allgemeinen „Naturrechten" auf Grund und Boden zu schwärmen, berühren wir uns hier mit den Vorschlägen der Bodenreformer. Was uns von den Konservativen und Antisemiten trennt, ist unser Eintreten für weitere Betriebskonzentration, was uns von den Sozialdemokraten und den bürgerlich Liberalen trennt, ist unsere Verwerfung der Kapitalkonzentration. [ . . . ]

In den beiden Worten: Volksorganisation und Antikapitalismus liegt unendlicher Arbeitsstoff. Eine christlich-soziale Bewegung, wie wir sie im Sinne haben, wird nicht ins Blaue hinein konstruieren, aber auch nicht nur ein paar Forderungen aufstellen, die sich in zehn Jahren erledigen lassen. Das ist ganz verkehrt: man stellt etliche sanfte Forderungen auf, die den Beifall aller Verständigen oben und unten schon haben oder bald haben werden, und dann wundert man sich, wenn diese Selbstverständlichkeiten — wie ein wenig Arbeiterschutz und ein Tropfen Steuerreform — die Menschen nicht fesseln. Für kleine Ziele springt niemand ins Feuer. Die Hauptgefahr der Christlich-Sozialen ist: klein und eng und vorsichtig zu sein. Unsere Losung muß werden: praktisch und weit.



Quelle: „Was heißt Christlich-Sozial?“ Heft 1 and 2, Leipzig 1894 and 1896.

Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, 1996, S. 84-89.

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