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Elisabeth Flitner, „Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze” (Rückblick)

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Wir besuchten die private höhere Töchterschule, die in einem alten Gebäude untergebracht war. Sie hatte weder Zentralheizung noch Beleuchtung. In der Nähe der eisernen Öfen war es glutheiß, am Fenster fröstelte man. Wenn es morgens noch dunkel war, brannte eine Kerze auf dem Katheder. Jeweils vier Kinder saßen auf einer Bank. Wir mußten mit gefalteten Händen still sitzen und aufstehen, wenn wir drankamen. Für die Pausen mußten wir uns in Reih und Glied aufstellen und im kiesbedeckten Schulhof im Kreise gehend unser Schulbrot essen, in den kurzen Pausen durften wir spielen, bis wir klassenweise geordnet wieder hinaufgingen.

Wenn die Direktorin Geburtstag hatte, gab es ein Fest mit Theateraufführungen, lebenden Bildern, Tänzen und Bewirtung. Kaisers Geburtstag wurde nur vom Gymnasium gefeiert – durch den »Kaiserball«. Die jungen Schüler waren wie elegante Herren gekleidet und mußten sich wie Erwachsene benehmen. Die »Damen« hatten Tanzkarten, in die sich die Herren für die jeweiligen Tänze eintrugen. Es ging alles ungemein konventionell zu. Ich habe an einem solchen Ball nur einmal, fünfzehnjährig, teilgenommen und mich später der Jugendbewegung angeschlossen, die bei ihren Geselligkeiten einen vollkommen anderen Stil hatte.

Ich hatte mehrmals Konflikte mit der Schule, weil ich vom Elternhaus her mehr Freiheit gewohnt war und mir mehr Freiheit nahm, als mir die Schule zubilligen wollte; einige Beispiele möchte ich dafür anführen.

Nach einer Montagmorgenandacht forderte mich eine Lehrerin zu einem Gespräch »unter vier Augen« nach der letzten Stunde auf. Wir rätselten in der Klasse, welche Augen gemeint seien, ob die der Direktorin oder des Schulrats oder von beiden, und ich war erleichtert, als sie mich allein empfing. Sie stellte mich zur Rede, weil ich angeblich während der Andacht gelacht hätte, und forderte mich zur Entschuldigung auf. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ...«, setzte ich an. »Daß«, fiel sie mir ins Wort. Erneut wiederholte ich das Wort »wenn« und setzte eilends hinzu: »Ich bin mir dessen nicht bewußt gewesen.« Ohne ein Wort wurde ich entlassen. Die Lehrerin war sichtlich enttäuscht, daß ihr die Gelegenheit entgangen war, ein zehnjähriges Kind zu demütigen.



Quelle: Elisabeth Flitner, „Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze“, Rückblick, in Rudolf Pörtner, Hg. Kindheit im Kaiserreich: Erinnerungen an vergangene Zeiten. München, 1989, S. 45-47, 50-51.

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