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Das Leben der Arbeiterklasse (1891)

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Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgängerunwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und vom Hause hält. Wenn man es aber tut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen.

Arbeitslosigkeit
Wenn ich endlich noch einige Worte über die Erfahrungen sagen darf, die ich bei der Arbeitssuche gemacht habe, so sind das kurz folgende. Tüchtigen Facharbeitern, wie Schlossern und Drehern, war es zu jener Zeit immer noch leichter möglich, Arbeit in Fabriken und kleineren Werkstätten zu erhalten, als Handarbeitern, Webern und Maschinenarbeitern. Auf der Arbeitssuche wurden wir meist schon von den Portiers der Fabriken kurz zurückgewiesen. In den wenigen Fällen, wo wir bei dem Leiter direkt anfragen konnten, wurden wir freundlich und höflich behandelt, einmal auch mit guten Ratschlägen versehen, die freilich in diesem Falle nichts nützten. Auch die Arbeitsnachweise, zu denen wir unsere Zuflucht nahmen, befriedigten unser Bedürfnis nicht. Es waren die in den Herbergen und in den Zeitungen. [ . . . ] Jedenfalls kann ich nach meinen eigenen Erfahrungen es aussagen, wie unsäglich deprimierend es ist, erfolglos von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt wandern zu müssen, immer von neuem seine Kraft anbietend, mit bittenden Worten, und immer wieder erfolglos. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist, auch wenn der Hunger noch nicht mit seiner eisernen Faust an die Tür pocht, das furchtbarste Los, das einen gesunden, strebsamen, für seine Familie sorgenden Mann treffen kann, um so bitterer, je ernster, tiefer, charaktervoller er ist. [ . . . ]

Betriebsordnung
[ . . . ] An erster Stelle heißt es wörtlich. „Das Recht, Arbeiter anzunehmen, steht nur der Direktion oder deren Beauftragten zu. Durch Annahme der Arbeit unterwirft sich jeder Arbeiter den Bestimmungen der Fabrikordnung, von welcher er bei seinem Antritt ein Exemplar ausgehändigt erhält, und worüber durch eigenhändige Eintragung des Namens in ein im Kontor ausliegendes Buch zu quittieren ist". Und an letzter Stelle heißt es, ebenfalls wörtlich: „Änderungen sowie Zusätze zu derselben werden von der Direktion durch Anschlag bekanntgemacht und treten jedesmal sofort in Kraft."

Hier prägt sich auch dem Harmlosen klipp und klar der ganze Charakter dieser wie wohl fast aller bestehenden Fabrikordnungen aus. Sie ist deutlich das Produkt der Fabrikleitung, zugeschnitten nach den allein maßgebenden Gesichtspunkten ihrer einseitigen Interessen. Sie ist eine Hausordnung, die der Eigentümer allein nach seinem Willen erläßt, und der sich jeder zu fügen hat, solange er als Glied dem Hause angehört. Es gibt für die Arbeiter gegen solche Arbeitsordnungen keinen anderen wirksamen Protest, als den des Austritts aus dem Verbande, dem sie Gesetz ist. Ihr Dasein und ihre Gültigkeit bezeichnet in allen Fällen von Bedeutung die vollkommene schweigende Abhängigkeit aller Arbeiter; sie ist der Ausdruck eines absolutistischen Systems, das gerade Gegenteil von wirtschaftlicher Freiheit, die doch das heute herrschende Gesetz im Wirtschaftsleben der Völker sein soll; sie ist eine neue und folgenschwere Ursache der Unselbständigkeit und Unreife des Charakters der heutigen Fabrikarbeiter. [ . . . ]


Quelle: Paul Göhre, Drei Monate als Fabrikarbeiter und Handwerkbursche. Leipzig, 1891.

Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, 1996, S. 47-51.

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