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6. Politik im vereinten Deutschland
Druckfassung

Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Das eingeklagte Reformdilemma beherrschte über Jahre die Tagespolitik, verstärkte die Politikverdrossenheit und unterminierte das kollektive Selbstbewusstsein der Deutschen. Dabei begann es 1990 durchaus verheißungsvoll. Die deutsche Wirtschaft boomte unter dem Einfluss der Vereinigung, die Deutschen feierten die Vereinigung ihres Landes und die Rückkehr einer vollen internationalen Souveränität. Politisch gewährte ein optimistischer Zeitgeist Helmut Kohl die Wiederwahl zum Bundeskanzler im Dezember 1990. Dieser Optimismus verschwand jedoch schnell: der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die Auseinandersetzungen um die Transformation Ostdeutschlands sowie die Zunahme rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Aktivitäten im Zusammenhang mit einem stetigen Anstieg von Aussiedlern und Asylbewerbern forderten die Regierung Kohl heraus. 1994 wurde sie trotz der Vereinigungsfrustrationen gerade noch einmal wiedergewählt. Nach sechzehn Jahren im Amt war es jedoch 1998 nach Ansicht der meisten Wähler Zeit für einen Regierungswechsel. Mit Helmut Kohls Abgang ging eine Ära zu Ende. Helmut Kohl wird als treibende Kraft der Modernisierung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), überzeugter Europäer, unter dessen Federführung eine gemeinsame Währung verhandelt wurde, und Vereinigungskanzler in Erinnerung bleiben. Kohls Involvierung in und Handhabung des 1999/2000 aufgedeckten Finanzskandals um illegale Spenden auf CDU-Parteikonten werfen jedoch nachträglich einen Schatten auf seine Amtsjahre.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde 1998 eine Regierung durch die Stimmen der Wähler und nicht durch das Koalitionsmanövrieren der Parteien abgewählt. Im Unterschied zu 1969, als der Antritt einer sozialliberalen Koalition für manche die Grundpfeiler der Republik erschütterte, wurde die Bildung einer Koalition zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und Bündnis 90/Die Grünen von den Verlierern mit demokratischer Gelassenheit hingenommen. Gemeinsam war beiden Regierungswechseln das Gefühl der Aufbruchstimmung. 1998 war jedoch mehr als nur ein Regierungswechsel: An der Spitze der Politik vollzog sich ein Generationenwechsel von der Kriegs- auf die Nachkriegsgeneration. Die so genannte 68er-Generation hatte sich erste politische Sporen in den rebellischen sechziger Jahren verdient und war den Marsch durch die Institutionen angetreten. Nun waren einige ihrer Vertreter, allen voran Gerhard Schröder und Joschka Fischer, an der Macht.

Wie bei der sozialliberalen Koalition der Jahre 1969-1982 vereinnahmten die unterschätzten Mühen des politischen Alltags und interne Parteiquerelen das Regierungsgeschäft der rot-grünen Regierung. Politikblockaden zwischen Bund und Ländern erschwerten wie schon in den letzten Jahren der Kohl-Regierung die Umsetzung von Reformen. Politik konnte erfolgreich oft nur dann gemacht werden, wenn informelle Beratungsgremien eine Agenda vorstellten, die dann von einer ebenso informellen großen Koalition zwischen den beiden großen Parteien SPD und CDU verhandelt wurde. Praktisch alle großen Politikvorhaben der letzten Jahre – angefangen von der Wehrstrukturkommission über die Zuwanderungskommission bis hin zu der Föderalismuskommission und den Renten- und Arbeitsmarktkommissionen – basierten auf diesen Verfahren.

Überfällige Liberalisierungen glückten trotz aller Schwierigkeiten. Dazu gehören ein moderneres Staatsbürgerschaftsrecht, das unter bestimmten Bedingungen eine doppelte Staatsbürgerschaft zulässt (1999), ein Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare (2001) und, nach vierjährigem Verhandeln, endlich ein Zuwanderungs- und Integrationsgesetz (2005). Auch in anderen Bereichen, wie der Reform der Bundeswehr, der Steuern und der Sozialsysteme, wurden wichtige Änderungen vorgenommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte seine Regierungsarbeit, so versprach er 1998, jedoch gerade am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. Seit vielen Jahren bewegt das Thema der Arbeitslosenzahlen wie kein anderes die politischen Gemüter. In einem politischen Kraftakt Schröders wurde im März 2003 die Agenda 2010, ein mehrstufiges Arbeitsmarktprogramm, verabschiedet. Vor allem Kürzungen des bisherigen Arbeitslosengeldes sowie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) führten zu bundesweiten Protesten. Frustrierte SPD-Mitglieder und Gewerkschaftler gründeten die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich im Januar 2005 als Partei etablierte. Hohe Arbeitslosenzahlen, die im Mai 2005 bei 4,8 Millionen (11,6 Prozent) lagen, interne Parteiauseinandersetzungen um Wirtschafts- und Sozialpolitik, eine Niederlage nach der anderen bei Landtagswahlen, die in der sozialdemokratischen Hochburg Nordrhein-Westfalen besonders empfindlich ausfiel, veranlassten Bundeskanzler Gerhard Schröder, vorzeitige Bundestagswahlen anzukündigen. Eine fingierte Vertrauensfrage, in der Schröder absichtlich die Abstimmung im Bundestag verlor, ebnete den Weg für vorgezogene Bundestagswahlen im September 2005.

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