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4. Deutschland in der Welt
Druckfassung

Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Die Vereinigung Deutschlands und die in ihrem Gefolge erreichte volle Souveränität haben die Rolle der Bundesrepublik als europäische Mittelmacht schrittweise gestärkt und ihren Handlungsspielraum vergrößert. Mit einer Bevölkerung von 82 Millionen ist Deutschland das bevölkerungsreichste Land westlich von Russland und die wichtigste Wirtschaftskraft Europas. Der internationale Druck, der bereits gegen Ende der „alten“ Bundesrepublik zugenommen hatte, die außenpolitische Zurückhaltung zugunsten größerer Beteiligung auf der Weltbühne aufzugeben, nahm aufgrund des Golf-Krieges im Jahre 1991 und des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens in den neunziger Jahren sprunghaft zu. Gedämpft wurde er durch anfängliche Befürchtungen, dass Deutschland zur beherrschenden Macht Europas aufsteigen könnte.

Als Markenzeichen der deutschen Außenpolitik gelten nach wie vor Kontinuität und ein breiter Konsensus aller wichtigen politischen Kräfte, wobei Frankreich und die USA als Basiskoordinaten dienen. Kontinuität und Konsens zeigen sich vor allem bei der inzwischen zur Staatsräson avancierten Verpflichtung zum Multilateralismus, d.h. dem Bemühen, internationale Probleme auf dem Wege der Kooperation mit anderen Regierungen und internationalen Organisationen und nicht im nationalstaatlichen Alleingang zu lösen. Diese Politik bindet Deutschland insbesondere an die EU und erleichtert seine Mitwirkung im Konzert der Mächte.

Erwartungen hinsichtlich einer engagierten und erweiterten internationalen Rolle sind im In- und Ausland gestiegen. Diese wurden insbesondere im Bereich der Sicherheitspolitik durch konkrete Aktionen in die Tat umgesetzt. Die Bundeswehr hat sich von einer reinen Verteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee entwickelt, deren Soldaten auf verschiedenen Kontinenten in Missionen von NATO, EU und UN tätig sind. Diese Übernahme militärischer Verantwortung in Krisengebieten der Welt geschah zeitgleich mit einer Verkleinerung der Streitkräfte von 340.000 auf 250.000 Soldaten. Die Umorientierung der Rolle der Streitkräfte ist trotz des verbreiteten Pazifismus relativ reibungslos vor sich gegangen, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung den Auslandseinsätzen der Bundeswehr mehrheitlich ablehnend gegenübersteht. Deutschlands Selbstverständnis als Zivilmacht bleibt weiter bestehen.

Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs wurde die Mittellage Deutschlands im Herzen Europas Chance und Risiko zugleich. Sie war Risiko, da die Durchlässigkeit der Grenzen Einwanderungsängste schürte und Befürchtungen hinsichtlich möglicher negativer wirtschaftlicher und politischer Nebeneffekte heraufbeschwor. Sie war aber auch Chance, die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn auszuweiten und Deutschland mit demokratischen Bündnispartnern zu umgeben. Deutsche Politiker machten sich deshalb von Anfang an zu Advokaten einer Osterweiterung von NATO und EU.

Gilt Konsens und pragmatische Anpassung ganz allgemein für die deutsche Außenpolitik, so trifft dies noch ausgeprägter auf die Europapolitik zu. Die demokratischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa zwangen die westeuropäischen Politiker zeitgleich eine Vertiefung der Integration und eine Erweiterung des Beitrittsgebietes der Europäischen Union vorzunehmen. Mit dem Vertragswerk von Maastricht (1992) wurden eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik und die Schaffung einer Währungsunion postuliert. Um den intendierten Integrationsschub auch sprachlich zur Geltung zu bringen, wurde die Europäische Gemeinschaft in Europäische Union umbenannt. Die Zahl der Mitgliedsstaaten vergrößerte sich zwischen 1995 und 2004 von zwölf auf 25. Bulgarien und Rumänien traten 2007 der EU bei; weitere Kandidaten stehen bereits vor der Tür. Diese weitreichenden und rasanten Veränderungen werfen vermehrt Fragen nach der Finalität der EU auf, was sowohl ihre Kompetenzen, ihr Demokratieverständnis und ihre territoriale Größe angeht. Nach den gescheiterten Volksentscheiden zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2005 legte die EU notgedrungen eine Reflexionsphase ein. Während der Ratspräsidentschaft Deutschlands im ersten Halbjahr 2007 wurden wichtige Aspekte des gescheiterten Verfassungsvertrages in den Vertrag von Lissabon integriert, der nach der Ratifizierung in den Mitgliedsländern am 1. Dezember 2009 in Kraft trat.

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