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3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft
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Überblick   |   1. Die Lage im Jahre 1945   |   2. Wirtschaft und Politik in den beiden deutschen Staaten   |   3. Die Rekonstituierung der deutschen Gesellschaft   |   4. Kultur   |   Empfehlungen zur weiterführenden deutschen Literatur   |   Empfehlungen zur weiterführenden englischen Literatur

Im Oktober 1945 wurde das Fraternisierungsverbot zwischen Besatzungstruppen und deutscher Bevölkerung aufgehoben. Beziehungen zwischen deutschen Frauen und alliierten Soldaten, besonders amerikanischen GIs, trugen bei vielen Deutschen zu einer Krisenwahrnehmung bei, einem Gefühl, dass die deutschen Männer als Versorger und Beschützer versagt hätten und die deutschen Frauen sich nun in ihrem Bedürfnis nach materieller Sicherheit den Ausländern zuwandten. In den 1940ern war der Kampf um Mangelware wie Nahrung und Wohnraum hart und drückte sich häufig in Feindseligkeit der ethnisch Deutschen gegenüber bestimmten Gruppen (z.B. den Millionen von Displaced Persons) und Maßnahmen der Alliierten aus. Zu diesen gehörten die Beschlagnahmung von Wohnraum sowie örtliche Rationierungssysteme, die Verfolgung im Nationalsozialismus in Betracht zogen.

Die Situation wurde zusätzlich durch eine Entwicklung kompliziert, die viele als den Zusammenbruch traditioneller Geschlechterrollen wahrnahmen. Frauen leisteten einen Großteil der Arbeit beim Aufräumen der zerstörten Städte und ernährten gleichzeitig ihre Familien; in den folgenden Jahren wurden besonders in Westdeutschland diese sogenannten „Trümmerfrauen“ für ihre Tapferkeit und Unabhängigkeit verehrt. Allerdings wurden selten Fragen danach gestellt, was diese Frauen vor dem Mai 1945 getan hatten. Ebenso wenige Gedanken machte man sich außerdem darüber, was sie in der Zukunft tun würden, d.h. ob sie eifrig in ihre traditionelle Hausfrauenrolle in sogenannten „normalen“ Familien zurückkehren würden.

Die physische und mentale Gesundheit der Kriegsheimkehrer und ihre Reintegration in die Gesellschaft bereiteten vielen Politikern und Psychologen Sorge. Für einige Westdeutsche war dieses Problem 1955 gelöst, als die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion kamen. Die „Heimkehrer“ wurden wiederholt als Männer dargestellt, die furchtbare Notlagen überlebt hatten, ohne ihre Männlichkeit oder die Bindung an ihre Familie zu opfern. In Ostdeutschland weckten die Kriegsheimkehrer zunächst Bedenken hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit, wurden jedoch schon bald als „Staatsväter“ dargestellt, als Männer, die erfolgreich zur sozialistischen Sache übergetreten waren.

Die Verfassungen der beiden deutschen Staaten verliehen Männern und Frauen gleiche Rechte, doch die beiden politischen Systeme nährten verschiedene Geschlechtermodelle. In Ostdeutschland veranlassten sozialistische Prinzipien und praktische Realitäten die Regierung dazu, weibliche Erwerbstätigkeit zu fördern. Einerseits spielte die Beteiligung an der Arbeitswelt laut allgemeiner sozialistischer Überzeugung eine wichtige Rolle bei der Emanzipation der Frauen. Andererseits gab es jedoch auch einen Arbeitskräftemangel, ganz zu schweigen von den niedrigen Witwenrenten. Um die weiblichen Arbeitnehmer zu unterstützen, begann die ostdeutsche Regierung ab den 1950er Jahren, Kindertagesstätten bereitzustellen.

Westdeutschland verfolgte ein anderes Modell. Hier propagierten die Führungseliten die sog. „Hausfrauenehe“ – eine Ehe, in welcher der Mann Alleinverdiener und Versorger war. Für die Konservativen reflektierte diese Art der Ehe die Werte des „Abendlandes“, in denen sie ein Gegengewicht zu Nationalsozialismus, Staatssozialismus und amerikanisch geprägtem „Materialismus“ und Konsumdenken sahen. Doch das „Hausfrauenmodell“ war weit entfernt von der Realität von Millionen Westdeutscher, nicht nur, da viele Frauen gezwungen waren, die Familie zu ernähren, sondern auch, weil eine steigende Zahl von Frauen mit Kindern im schulpflichtigen Alter erwerbstätig waren, um während des „Wirtschaftswunders“ zum Familieneinkommen beizutragen. Die verfassungsmäßige Forderung nach Geschlechtergleichstellung erforderte die Revision einiger Artikel des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), was zu einer ausgedehnten öffentlichen Debatte und mehreren Gerichtsverfahren führte. Das Gleichberechtigungsgesetz von 1958 brachte wichtige Veränderungen zum Positiven für die Frauen: es schaffte beispielsweise das automatische Recht des Ehemannes ab, Eigentum, das durch die Frau in die Ehe eingebracht wurde, zu verwalten. In negativer Hinsicht bestätigte es allerdings auch die entscheidende Rolle des Ehemannes bei Auseinandersetzungen über die Kinder. (Dieser Artikel wurde vom Verfassungsgericht 1959 abgeschafft.) Obwohl somit Schritte hin zu einer rechtlichen Gleichstellung unternommen worden waren, beschäftigte die Frage, ob Frauen tatsächlich auf dem Weg zu beruflicher Gleichberechtigung mit Männern waren, die Deutschen in Ost und West weiterhin, und verschiedene Fragen wie z.B. die Aufgabenverteilung bei der Kindererziehung und Haushaltsführung mussten in der Praxis noch gelöst werden. Bedenken sowohl hinsichtlich der Geburtenrate als auch der Moralvorstellungen führten außerdem bis zu den 1960er und 1970er Jahren zu strengen Abtreibungsregelungen in beiden deutschen Staaten.



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