Berlin, 14. März 1917
Also die Vorwürfe, die mir gemacht werden: ja, der Reichskanzler spricht über die Neuorientierung, spricht über die Gedanken, die er für die Zukunft hat, aber das sind leere Worte, er gibt keine präzisen Versprechungen, – diese Vorwürfe sind furchtbar billig und haltlos, wenn man die Sache bis aufs Ende durchdenkt.
Über den Geist, mit dem ich späteren Reformen gegenübertreten werde – und ich bin so unbescheiden, dem Geiste auch neben den Paragraphen noch immer eine gewisse Bedeutung zuzuschreiben –, habe ich mich wiederholt ausgesprochen, auch in ganz klarer und unmißverständlicher Weise. Der Kernpunkt für mich – ich will so einfache Worte gebrauchen, wie sie mir im Augenblick in den Mund kommen – ist doch folgender. Wir werden nach dem Kriege vor die gewaltigsten Aufgaben gestellt werden, die wohl je einem Volke beschieden gewesen sind, (sehr richtig!) vor Aufgaben, die so gewaltig sind, daß das ganze Volk in allen seinen Schichten, jeder Mann im Volke, mit Hand anlegen muß, wenn wir uns überhaupt herausarbeiten wollen. (Sehr richtig!) Und auch eine starke auswärtige Politik wird uns nach dem Frieden notwendig sein. (Sehr richtig!) Wir werden von Feinden umgeben sein, denen wir nicht gegenübertreten wollen mit großen Worten, mit Renommistereien, mit Sich-in-die-Brust-werfen, sondern mit der inneren Stärke des Volkes. (Bravo!) Eine solche Politik können wir nur treiben, wenn das staatliche, das Vaterlandsbewußtsein, welches in diesem Kriege doch in ganz neuen und uns bisher unbekannten Formen zur wunderbaren Wirklichkeit geworden ist, rein erhalten und gestärkt wird. (Bravo!) Eine solche Politik der Stärke, eine solche innere und eine solche äußere Politik können wir nur führen, wenn die politischen Rechte der Gesamtheit des Volkes in allen seinen Schichten, auch in seinen breiten Massen, vollberechtigte und freudige Mitwirkung an der staatlichen Arbeit ermöglichen. (Bravo!)
Meine Herren, das erfordert unsere Zukunft nicht um theoretischer Probleme willen, sondern damit wir leben können. (Sehr richtig!) Ich will nicht differenzieren. In diesem Kriege gibt jeder Sohn des Volkes in todesmutigem Wetteifer sein Bestes und sein Letztes her, arm und reich, hoch und niedrig, niemand kann beanspruchen, daß er etwas Mehreres, etwas Besseres täte als der andere. Aber wenn ein Glied des Ganzen versagt, können wir dann den Krieg gewinnen? (Zustimmung) Und können wir nach diesem Krieg leben, wenn im Frieden ein Glied des Volkskörpers versagt? Auch da sage ich nein. Vor dem Kriege sind die Interessen der Arbeiterschaft häufig in einen angeblich unversöhnlichen Gegensatz zu den staatlichen Interessen und zu den Interessen der Arbeitgeber gestellt worden. Ich hoffe, dieser Krieg kuriert uns endgültig von diesem Irrwahn; (Bravo!) denn täte er es nicht, wären wir nicht gewillt, alle die Folgerungen, die sich aus dem Erleben dieses Krieges ergeben, entschlossen zu ziehen in allen Fragen unseres politischen Lebens, in der Regelung des Arbeiterrechts, in der Regelung des preußischen Wahlrechts, bei der Ordnung des Landtags im ganzen – die Herren sprechen ja vom Herrenhause; ich will auf Einzelnes nicht eingehen – (sehr gut!) wenn wir nicht entschlossen sind, diese Folgerungen zu ziehen, rückhaltlos zu ziehen, und ich sage für meine Person: mit dem Vertrauen, das mir in diesem Kriege eingewachsen ist zu allen Söhnen des Volkes, (lebhaftes Bravo! links) – wenn wir das nicht tun, dann gehen wir inneren Erschütterungen entgegen, deren Tragweite kein Mensch übersehen kann. (Sehr richtig! links) Ich werde diese Schuld nicht auf mich laden. (Bravo! links)
Vor einiger Zeit ist hier von der rechten Seite dieses Hauses ein „Wehe!" dem Staatsmann zugerufen worden, der nicht aus diesem Kriege einen starken Frieden für Deutschland herausholt. Nun, meine Herren, gibt es einen Deutschen, der nicht sein letztes Herzblut daransetzte, um nach diesen gewaltigen Opfern einen Frieden für unsere Kinder und Enkel herauszuholen, einen deutschen, einen starken, einen sicheren Frieden? (Lebhafter Beifall auf allen Seiten) Das ist einfach selbstverständlich. (Wiederholter lebhafter Beifall) Und, meine Herren, da möchte ich denn doch auch sagen: Wehe dem Staatsmann, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt, (Bravo! links) wehe dem Staatsmann, der glaubt, daß wir nach einer Katastrophe, wie sie die Welt überhaupt noch nicht gesehen hat, deren Umfang wir Mitlebenden und Mithandelnden überhaupt noch gar nicht verstehen können, (sehr richtig! rechts) der nach einer solchen Katastrophe glaubt, er könnte einfach wieder anknüpfen an das, was vorher war, (Bravo!) daß er neuen und jungen Wein in die alten Schläuche füllen könnte, ohne daß sie zersprengten? Wehe dem Staatsmann! (Bravo! links)
Quelle: „Rede Bethmann Hollwegs vor dem preußischen Abgeordnetenhaus“, Verhandlung des preußischen Abgeordnetenhauses 1916/17, Bd. 5, S. 5255-58.
Abgedruckt in Wolfdieter Bihl, Deutsche Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991, S. 258-59.