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Opposition innerhalb der SPD (19. Juni 1915)

Trotz der anfänglichen Eindrücke einer weit verbreiteten Einigkeit im Volk war der Konsens zugunsten des Krieges von Anfang an fragil, anfällig gegenüber den Belastungen sowohl von der Rechten als auch der Linken. Die Entscheidung der Sozialisten, 1914 den Krieg zu unterstützen, war keineswegs einstimmig ausgefallen. Ab 1915 äußerten führende Sozialisten ernste Vorbehalte gegen den Krieg. In den Reihen der SPD gerieten Befürworter des Krieges mit Kriegsgegnern aneinander, wodurch es 1917 zur Spaltung der Partei kam. Hier appellieren Eduard Bernstein, Karl Kautsky und Hugo Haase an ihre SPD-Genossen, sich gegen die aggressiven Annektierungspläne der Regierung und einiger Konservativer zu wenden.

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Leipzig, 19. Juni 1915

Das Gebot der Stunde

Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Die deutsche Sozialdemokratie ist vor eine Frage gestellt, die für die Geschicke des deutschen Volkes, für die Zukunft der Kulturwelt von der größten Tragweite ist.

Forderungen, für die schon in früheren Monaten eine gewisse Presse, sowie Vereinigungen, denen keine größere Bedeutung beigelegt wurde, systematisch Stimmung gemacht hatten, sind in den letzten Wochen von Persönlichkeiten in hervorragender Stellung, sowie von einflußreichen Körperschaften in teilweise sogar noch verschärfter Form vertreten worden. Programme werden aufgestellt, die dem gegenwärtigen Krieg den Stempel eines Eroberungskrieges aufdrücken. Noch ist es in aller Erinnerung, daß der Präsident des preußischen Herrenhauses, Wedel-Piesdorf, in der Sitzung des Herrenhauses vom 15. März 1915 erklärte: Deutschland stehe jetzt als Sieger da:

„Und wenn wir nichts weiter wollten, als den Angriff der Feinde abschlagen, so glaube ich, würde es nicht allzu schwer sein, einen Frieden in kurzer Frist zu erlangen. Damit aber kann sich Deutschland nicht befriedigt erklären. Nach den ungeheuren Opfern, die wir gebracht haben, an Menschen sowohl wie an Hab und Gut, müssen wir mehr fordern, wir können das Schwert erst wieder in die Scheide stecken, wenn Deutschland eine Sicherung erlangt hat dagegen, daß in ähnlicher Weise wie diesmal die Nachbarn über uns herfallen."

In der Reichstagssitzung vom 29. Mai 1915 haben die Abgeordneten Graf v. Westarp als Vertreter der Konservativen und Schiffer als Vertreter der Nationalliberalen unumwunden sich für Annexionen ausgesprochen; der erstere unter Berufung auf eine Erklärung des deutschen Reichskanzlers vom Tage zuvor, die dahin ging, Deutschland müsse alle nur möglichen „realen Garantien und Sicherheiten" dafür schaffen, daß keiner seiner Feinde, „nicht vereinzelt, nicht vereint", wieder einen Waffengang wagen werde. Diese Auslegung der Worte des Reichskanzlers hat von der Reichsregierung keine Zurückweisung erfahren.

Es ist fernerhin bekanntgeworden, daß sechs große Wirtschaftsvereinigungen, voran der großkapitalistische Zentralverband deutscher Industrieller und die Kampforganisation der Agrarier, der Bund der Landwirte, die der Politik des Deutschen Reiches so oft schon die Richtung gewiesen haben, unter dem 20. Mai 1915 eine Eingabe an den Reichskanzler gerichtet haben, worin sie fordern: Gewinnung eines großen Kolonialreiches, ausreichende Kriegsentschädigung und Annexionen in Europa, die allein im Westen über zehn Millionen Menschen – mehr als sieben Millionen Belgier und über drei Millionen Franzosen – zwangsweise unter deutsche Herrschaft stellen würden. Wie diese Zwangsherrschaft gedacht ist, kennzeichnet der Satz der Eingabe, wonach Regierung und Verwaltung in den annektierten Ländern so geführt werden müssen, daß „die Bewohner keinen Einfluß auf die Geschicke des Deutschen Reiches erlangen". Das heißt mit anderen Worten, diese gewaltsam annektierte Bevölkerung soll politisch rechtlos gemacht und gehalten werden. Und weiter wird gefordert, aller Besitz, der einen starken wirtschaftlichen und sozialen Einfluß gewähre, „müsse in deutsche Hände übergehen", im Westen besonders der industrielle Besitz aller großen Unternehmungen, im Osten besonders der landwirtschaftliche große und Mittelbesitz.

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