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Eine Polonaise (August 1916)

Dieser Brief eines Regierungspräsidenten veranschaulicht die Spannungen zwischen den Behörden und der Zivilbevölkerung wegen der Lebensmittelversorgung in Magdeburg. Der Unmut der städtischen Verbraucher richtete sich vorrangig gegen die Landwirte und Mittelsmänner, danach gegen Großhändler und Kaufleute, deren Einschaltung die von den Konsumenten bezahlten Preise belasteten. Örtliche Verbraucherorganisationen überbrückten die Konfessions- und Klassengrenzen, und formten häufig Gruppenidentitäten buchstäblich auf der Straße, wo Frauen vor Läden und Märkten Schlange standen, um die kostbaren Vorräte für ihre Familien zu kaufen. Dieses Ritual, oft als „Polonaise“ bezeichnet, setzte sich überwiegend aus Frauen zusammen, die den Lokalbehörden Respekt und Furcht einflößten.

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»Diejenigen Frauen, die dem Zweiten Bürgermeister zunächst standen und mit ihm sprachen, waren von der ihnen gewordenen Auskunft befriedigt, während die ferner stehenden Zwischenrufe machten; er [der Zweite Bürgermeister U. D.] ersuchte die ersteren, diesen Frauen den Sachverhalt mitzuteilen und sie zu beruhigen, was sie versprachen. Die Menge entfernte sich hierauf, einzelne sollen geäußert haben: ›Heute nachmittag werden wir wiederkommen!‹ Die Menge wußte, daß nachmittags um 5.00 Uhr eine Magistratssitzung stattfinden sollte und wollte anscheinend die ankommenden Magistratsmitglieder belästigen. Da die Sitzung aber aus besonderen Gründen ausnahmsweise schon um 4 Uhr begonnen hatte, gelang dies nicht. Tatsächlich sammelten sich nämlich zwischen 4 und 5 Uhr Menschenmengen an, die sich immer mehr durch halbwüchsige Burschen und Mädchen, auch Schulkinder verstärkten und bei mäßiger Schätzung um 7 Uhr wohl auf 1000 Personen anwuchsen. Es wurde fortwährend geschrieen und gejohlt; auch wurden beleidigende und höhnische Rufe auf die Behörden ausgestoßen und es hatte den Anschein, als wenn nicht mehr die Butterversorgung, sondern vielmehr die Lust am Skandal und am Unfug die Hauptrolle spielte. Gegen 7 Uhr trat der Zweite Bürgermeister vor das Stadthaus und teilte den nächststehenden Frauen nochmals mit, daß die Butterverteilung aus Gründen, die er ihnen ebenfalls mitteilte, erst am Sonnabend stattfinden könne. Auch diese Frauen erklärten sich mit der ihnen gewordenen Auskunft einverstanden; da aber die dahinterstehende Menge fortgesetzt schrie und johlte, so bat er die Frauen, den andern diesen Bescheid mitzuteilen und sie zu beruhigen, was sie versprachen, und entfernte sich in das Stadthaus. Zwischen 7 und 8 Uhr verminderte sich die Menge etwas – vermutlich nahmen die Leute ihr Abendessen ein – um gegen ½9 in erheblich größerer Zahl wieder zu erscheinen und dann das Haus eines Vorstandsmitgliedes der Tangermünder Molkerei anzugreifen, in dessen Keller angeblich 8 Zentner Butter lagerten. Es wurden große Steine aus dem Rinnstein herausgenommen, andere Steine aus anderen Straßen, wo sie lagerten, geholt und gegen das Haus geworfen; bis abends um 11 Uhr waren sämtliche Fenster des Hauses eingeworfen, auch hatte man schon versucht, mit großen Steinen die Tür einzuwerfen. Die Polizeibeamten waren demgegenüber machtlos, mehrere wurden durch Steinwürfe leicht verletzt. Als der Zweite Bürgermeister um 7½ Uhr das Stadthaus verließ, wurde er durch Bewerfen mit Honig tätlich beleidigt.«

Schließlich wurde Militär herangeholt, und auf die Gerüchte von dessen Ankunft hin

»steigerte sich die Erregung der Menge und die Angriffe auf das Haus wurden heftiger, so daß es erst nach einer halben Stunde dem Eingreifen der Truppen gelang, die Scharen zu verdrängen; sobald sie aus einer Straße vertrieben waren und die Soldaten sich umwandten, folgte ihnen die Menge und es bedurfte des Eingreifens der Landsturm-Kompagnie, um die Menge zu zerstreuen. Eine Anzahl von Personen wurde wegen groben Unfuges sowie Landfriedensbruch festgenommen. Als die Truppen anwesend waren, wurden Rufe ausgestoßen, daß sich die Zusammenrottung an demselben Tage und später, wenn es wieder keine Butter gäbe, wiederholen würde. Die zuerst nur aus arbeitenden Frauen bestehende Menge setzte sich abends hauptsächlich aus Frauen sowie jungen Mädchen und halbwüchsigen Burschen zusammen und leider auch einer großen Anzahl Schulkinder. Es hatten sich ferner eine Anzahl lichtscheuer Elemente eingefunden, die die Gelegenheit zum Skandal benutzten. Wenn auch die Zusammenrottung anfangs durch den Buttermangel veranlaßt war, so nahm sie doch im Laufe der Zeit den Charakter einer Demonstration an.«



Quelle: Regierungspräsident Magdeburg an preußischen Innenminister, 9. September 1916, Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Dahlem, Rep. 197A, Io, Nr. 1, Bd. 2.

Abgedruckt in Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen, 1989, S. 246-47.

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