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Die Prinzipien der „Sozialen Marktwirtschaft” (19. Dezember 1962)

Professor Alfred Müller-Armack, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und einer von Ludwig Erhards Hauptberatern, prägte 1946 den Ausdruck „soziale Marktwirtschaft.“ Aber wenn gleich auch dieses Konzept auf den Prinzipien der Marktwirtschaft gegründet war, so war doch die soziale Marktwirtschaft keine freie und unkontrollierte Form des Kapitalismus. Vielmehr, so argumentiert Müller-Armack in der nachfolgenden Rede, war die soziale Marktwirtschaft eine Art der Ordnung, sozial wie auch wirtschaftlich, welche erbaut war auf der Grundlage des freien Wettbewerbs und der Besorgnis über die Sozialfürsorge. Er beschreibt sie als das Fundament für das „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre, und sagt aber auch im gleichen Zug, dass die Zeit für die soziale Marktwirtschaft gekommen sei, um in die nächste Phase überzugehen, in der soziopolitische Themen mehr an Bedeutung gewinnen würden. Der Wirtschaftspolitik, so bemerkt er jedoch, würde deshalb nicht etwa weniger an Bedeutsamkeit zugesprochen werden. Hier betont er vor allem die Wichtigkeit der Finanzpolitik beim zunehmenden Wohlstand in der Gesellschaft.

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Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft


[ . . . ]

II.

Die Soziale Marktwirtschaft ist eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung. Die großen politischen Entscheidungen werden von ihr nicht berührt; da sich aber ein wesentlicher Teil unseres Lebens in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen bewegt, hat sie auch politische Bedeutung. Wir stehen weltweit in einer Spannung zwischen West und Ost. In diesem, durch die gegenseitige nukleare Abschreckung fixierten Rahmen sind die Aktionsmöglichkeiten des freien Westens beschränkt. Um so wichtiger ist die bewußte Behauptung seiner inneren Form der Freiheit. Gewiß kann und soll die Soziale Marktwirtschaft nicht als Gegenideologie dienen, aber sie ist doch eine Formel, unter der sich das Selbstverständnis des Westens in einer ihm gemäßen Form zu organisieren vermag. Wenn wir unsere Lebensform gegenüber dem Osten bewußt zu sichern versuchen, genügt es nicht, pragmatisch dies oder jenes zu tun, es bedarf vielmehr einer bewußten Gestaltung unseres Lebens unter einem Leitbild. Soweit ich sehe, gibt es gegenwärtig nur zwei solcher Leitbilder, die dem Osten gegenüber diese Kraft des Westens zu neuen Formen unter Beweis stellen: die Europäische Integration und die Soziale Marktwirtschaft. Der freie Westen bedarf integrierender Ideen als Antwort auf die Herausforderung des Ostens, eine bessere Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu bieten. Wer im Westen darauf verzichtet, dem Leitbild die letzte mögliche Klarheit zu geben und statt dessen nur Tagespolitik betreibt, wird dem Osten nicht gewachsen sein; nichts wird das ideologiebestimmte Denken des Ostens stärker treffen als die sich klar abzeichnende Fähigkeit des Westens, bessere, humanere, freiere und sozialere Lösungen für die Lebensfragen der heutigen Welt zu finden. Die Reaktion des Ostens auf die Fortschritte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die man als neues Faktum allmählich anerkennt, zeigt, welche Möglichkeiten bestehen, wenn wir auch im Inneren den Gedanken unserer Lebensordnung zu höherer Klarheit bringen.

III.

Mein Versuch, den Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft klarzumachen, beginnt mit der Frage, was denn Soziale Marktwirtschaft ist. Diese Frage mag als zu weit ausholend erscheinen, aber sie ist für das Verständnis dieser Ordnung notwendig. Nur wenig ist gewonnen, wenn man von der sprachlichen Formulierung ausgeht, die „eine Marktwirtschaft mit sozialen Zielen und Möglichkeiten“ definiert. Diese Wortverbindung war überraschend zur Zeit der Namengebung 1946, in einer Zeit, in der Wirtschaftslenkung und Dirigismus ihr Monopol auf soziale Sicherung behaupteten und es paradox erschien, in einer Marktwirtschaft, die man aus sozialen Motiven ein Jahrzehnt lang bewußt demontiert hatte, eine günstigere Ordnung auch für die breiten Schichten zu sehen. Längst ist inzwischen die Möglichkeit anerkannt, daß eine bewußt gestaltete und durch eine Wettbewerbsordnung gesicherte Marktwirtschaft sozialen Fortschritt besser verbürgt, zumal durch bewußte Ausgestaltung marktkonformer Interventionen, und daß durch die in den öffentlichen Haushalten sich vollziehende Einkommensumleitung sozialer Fortschritt auf dem Fundament einer freien Ordnung um so wirksamer gestaltet werden kann, als die Fortschritte des Wettbewerbs das ökonomische Fundament sozialer Interventionen bilden; Soziale Marktwirtschaft bedeutet so nicht Verzicht auf soziale und gesellschaftspolitische Interventionen. Ein vollgültiges System der Wirtschaftspolitik konnte ausgestaltet werden bei voller Wahrung der Koordinierung zu einer Marktwirtschaft, deren Sachnotwendigkeiten zu beachten sind.

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