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Brandt-Besuch in der DDR (23. März 1970)

Das Erfurter Treffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Ministerratsvorsitzenden der DDR, Willy Stoph, markierte den Beginn direkter Verhandlungen zwischen beiden deutschen Regierungen, die, so der Autor, für das SED-Regime sowohl Chancen als auch Risiken beinhalten würden.

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Wo wären wir


Spätestens von jenem Augenblick an, da der westdeutsche Regierungschef in Erfurt den roten Teppich betrat, war die DDR nichts Besonderes mehr – kein Phänomen, keine Zone, vielmehr ein Staat wie alle anderen. Da kam einer, der keine Gänsefüßchen setzte und der durch seine bloße Anwesenheit der DDR Reverenz erwies. Indem er das Protokoll, Fahnen, Hymnen und Soldaten respektierte, zollte er Anerkennung.

So war es schon, wie SED-Chefkommentator Karl Eduard von Schnitzler sagte, eine „Stunde der Wahrheit". Eine Stunde gewiß, in der sich das der eigenen Souveränität stets sichere DDR-Regime seine Eigenstaatlichkeit vom deutschen Nachbarn bescheinigen ließ. Eine Stunde, in der die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" – einst Hausblatt der Bonner Alleinvertreter – auf deutschem Boden „zwei gefestigte, mit Selbstbewußtsein ausgestattete normale Staaten" entdeckte und schrieb, sie sei „nun unwiederbringlich vertan: die staatliche Einheit in den uns vertrauten Formen".

Wirklich: So nahe war die DDR in den zwei Jahrzehnten deutscher Zwietracht ihrem Ziel noch nie, von Bonn für voll genommen – und damit international hoffähig – zu werden. Noch nie aber auch – und insofern mag Erfurt gleichfalls eine Stunde der Wahrheit gewesen sein – war dieser Staat so unmittelbar dem Problem konfrontiert, wie er den Risiken entgehen kann, die unvermeidlich scheinen, wenn in einer Welt des Wandels die Fronten zwischen Ost und West in Bewegung geraten.

Nicht, daß die DDR ins Wanken geriete, wenn ihre Bürger, wie in Erfurt geschehen, den anderen Willy ans Fenster rufen. Auch nicht, daß die Sowjet-Union ihr Interesse am Westpfeiler ihres Imperiums verlöre und ihn stürzen ließe.

Unwägbarkeiten vielmehr sind es, die das Risiko ausmachen: die Frage etwa, inwieweit – bei fortschreitender Entspannung – die Eigeninteressen der Bruderländer im sozialistischen Lager mit DDR-Interessen kollidieren könnten; die Frage, inwieweit der Schritt aus der schützenden Isolierung, den der Kontakt zur westlichen Welt bedingt, die DDR unerwünschten, fremden Einflüssen auszusetzen droht; die Frage schließlich, inwieweit diese Entwicklung auf das Bewußtsein nicht nur der DDR-Bevölkerung, sondern auch auf die Denkweise des Funktionärs-Korps der SED einzuwirken vermag.

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