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Neue Armut in der Bundesrepublik (1976)

Das Thema der neuen Armut wurde nicht zuletzt durch den sozialpolitischen Sprecher der CDU, Heiner Geißler, in die Öffentlichkeit getragen. In diesem Dokument verbindet er sein Plädoyer für die sozial benachteiligten Gruppen mit einer Kritik an der Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition, die zu sehr von den Interessen der Tarifparteien geleitet werde.

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Der empirische Beweis: Neue Armut
1. 6 Millionen Arme in der Bundesrepublik Deutschland



Die politische Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland für die Einkommen und die Einkommensverteilung hat sich in den vergangenen Jahren, vor allem seit 1969, durch die Untätigkeit des Staates immer stärker auf die Tarifpartner verlagert. Dabei haben die Regierenden weitgehend vergessen, daß der Arbeitnehmer, wenn er verheiratet ist und Kinder hat, vom Lohn, und zwar von dem Lohn, den er am Arbeitsplatz aufgrund seiner Leistung erzielt, allein nicht leben kann. Er ist auf Sozialeinkommen angewiesen, also z.B. auf Familienlastenausgleich in Form von Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung, Leistungen, die im Rahmen des Sozialeinkommens auf dem Wege der sekundären Einkommensumverteilung vom Staat mittels Steuern finanziert und entsprechend den sozialpolitischen Zielsetzungen, die er sich gibt, verteilt werden.

Dieser Aufgabe ist der Staat, genauer gesagt, sind die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, in den letzten Jahren nicht mehr nachgekommen. Das Kindergeld ist von 1965 bis 1975 mit einer einzigen Ausnahme (nämlich 10,– DM für das dritte Kind) nicht mehr erhöht worden. Auch die Kindergeldreform von 1975 hat nichts daran geändert, daß das Kindergeld zu den ganz wenigen Sozialleistungen gehört, die nach wie vor nicht dynamisiert sind.

Durch die sehr niedrig angesetzten Einkommensgrenzen konnten Wohngeld und Ausbildungsförderung ihre sozial entlastende Funktion für immer weniger Familien erfüllen. Der inflationäre Verteilungskampf um das Volkseinkommen wurde fast ausschließlich zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgetragen, wobei sich zeigte, daß keine der beiden Seiten dauerhafte Vorteile zu Lasten der anderen Seite erringen konnte. [ . . . ]

Auch waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, die Defizite staatlicher Sozialeinkommenspolitik durch höhere Tariflohnerhöhungen auszugleichen. Diese Versuche, wie sie z.B. die ÖTV unternommen hatte, erwiesen sich als untauglich und konjunkturpolitisch schädlich. Leidtragende waren auch hier die sozial Schwachen.

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