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Sozialer Rechtsstaat (4. April 1973)

Nachdem die Bundesregierung 1972 einen Gesetzesentwurf für den allgemeinen Teil eines Sozialrechts vorgelegt, aber vertagt hatte, brachte ihn der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Arendt, 1973 erneut auf die Tagesordnung. Hier erklärt er die Bedeutung eines einheitlichen Sozialrechts, in dem die sozialen Rechte der Bürger verbrieft und die bisher auf viele Gesetze verstreute Rechtslage auf eine gesetzliche Grundlage gebracht wird.

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Pressemitteilung (Auszug) des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt


Das Sozialrecht ist heute in zahlreichen Einzelgesetzen zersplittert. Der Bürger, für den die Gesetze gemacht sind, steht vor einem Dschungel, in dem sich nur wenige zurechtfinden können. Das wollen wir ändern. Durch die Schaffung eines Sozialgesetzbuches wollen wir das Sozialrecht nach einheitlichen Grundsätzen zusammenfassen, harmonisieren und vereinfachen. Das Sozialrecht soll für den Bürger überschaubar gemacht werden. Damit soll zugleich das Rechtsverständnis des Bürgers und sein Vertrauen in den sozialen Rechtsstaat gefördert, seine Rechtssicherheit gewährleistet und die Rechtsanwendung durch Verwaltung und Rechtsprechung erleichtert werden.

[ . . . ] Das Sozialgesetzbuch soll die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes durch soziale Rechte, das heißt, durch eine Sozialcharta für den Bürger konkretisieren. Diese Rechte verdeutlichen die Leitideen unserer fortschrittlichen Sozialpolitik. Sie sind für die Verwaltung und Rechtsprechung bindend und daher bei der Rechtsanwendung, besonders bei der Auslegung, Lückenfüllung und Ermessensausübung zu beachten.

Einen Schwerpunkt des Gesetzentwurfs bildet die eingehende Information des Bürgers durch Einweisungsvorschriften. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Aufklärung und Beratung des Bürgers über seine Rechte und Pflichten zu den wesentlichen sozialen Aufgaben unserer Zeit gehören. Wer in Zukunft Rat oder Auskunft in sozialen Angelegenheiten sucht, hat einen Anspruch darauf, daß die zuständige Stelle der Sozialverwaltung ihn umfassend und schnell berät. Er darf mit seinem Ersuchen nicht daran scheitern, daß hierfür mehrere Stellen in Betracht kommen. Deshalb ist neben der Beratungspflicht der zuständigen Leistungsträger zusätzlich vorgesehen, daß bestimmte ortsnahe Stellen unabhängig von ihrer fachlichen Zuständigkeit über alle sozialen Angelegenheiten Auskünfte erteilen. Auch das Gesetz selbst soll zur besseren Information des Bürgers beitragen, indem es einen authentischen Überblick über alle wichtigen Sozialleistungen und die dafür zuständigen Leistungsträger gibt.

Einen weiteren Schwerpunkt des Gesetzentwurfs bildet die Stärkung der Rechtsstellung des einzelnen durch gemeinsame Grundsatzvorschriften für alle Sozialleistungsbereiche. Diese Vorschriften sind von der Vorstellung getragen, daß nach heutigem Verständnis Sozialleistungen nicht mehr „von oben herab gewährt" werden, sondern eine selbstverständliche Aufgabe des sozialen Rechtsstaates sind. Daraus folgt zum Beispiel,

– daß auf Sozialleistungen im Zweifel ein Rechtsanspruch besteht,
– daß in geeigneten Fällen Vorschüsse und vorläufige Leistungen zu erbringen sind,
– daß rückständige Geldleistungen unter bestimmten Voraussetzungen verzinst werden müssen und beim Tode des Berechtigten auf Rechtsnachfolger übergehen und
– daß Sozialleistungen dem Rechtsverkehr nicht völlig entzogen werden dürfen, sondern unter sozialpolitisch vertretbaren Voraussetzungen übertragen und gepfändet werden können. Daneben soll das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zum Beispiel durch Vorschriften über das rechtliche Gehör und die Geheimhaltung der Intimsphäre sowie durch eine genaue Umschreibung der Mitwirkungspflichten des einzelnen verbessert werden. Die Eingliederung Behinderter in die Gemeinschaft soll durch zusätzliche gemeinsame Vorschriften intensiviert werden.



Quelle: Pressemitteilung vom 4. April 1973; abgedruckt in Arnold Harttung et al., Hg., Willy Brandt, Zum sozialen Rechtsstaat. Reden und Dokumente. Berlin, 1983, S. 353-54.

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