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Intervention der Armee anlässlich der Julikrise: Helmuth J. L. von Moltke an Theobald von Bethmann Hollweg (29. Juli 1914)

General Moltke drängte auf eine präventive deutsche Mobilmachung gegen Russland. Dabei nahm er in Kauf, dass dieser Schritt Frankreich auf den Plan rufen würde. Moltke hielt einen Zweifrontenkrieg für unvermeidlich. Sein Denken spiegelt den zunehmenden Fatalismus vieler militärischer Verantwortlicher wieder, die glaubten, dass Deutschlands Machtstellung seit dem Beginn des Jahrhunderts im Schwinden begriffen sei.

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Berlin, den 29. Juli 1914

Zur Beurteilung der politischen Lage

Es ist ohne Frage, dass kein Staat Europas dem Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit einem anderen als wie menschlichen Interesse gegenüberstehen würde, wenn in ihn nicht die Gefahr einer allgemeinen politischen Verwickelung hineingetragen wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu entfesseln. Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ursache einer europäischen Spannung, die mit nachgerade unerträglich werdendem Druck auf dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet. Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat Österreich bisher die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im Nachbarlande geschritten ist. Erst nach dem letzten scheusslichen Verbrechen hat es zum äussersten Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen ein Geschwür auszubrennen, das fortwährend den Körper Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, dass ganz Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz Europa würde aufgeatmet haben, wenn sein Störenfried in gebührender Weise gezüchtigt und damit Ruhe und Ordnung auf dem Balkan hergestellt worden wäre, aber Russland stellte sich auf die Seite des verbrecherischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-serbische Angelegenheit zu der Wetterwolke, die sich jeden Augenblick über Europa entladen kann.

Österreich hat den europäischen Kabinetten erklärt, dass es weder territoriale Erwerbungen auf Kosten Serbiens anstreben noch den Bestand dieses Staates antasten wolle, es wolle den unruhigen Nachbar nur zwingen, die Bedingungen anzunehmen die es für ein weiteres Nebeneinanderleben für nötig hält, und die Serbien, wie die Erfahrung gezeigt hat, trotz feierlicher Versprechungen ungezwungen niemals halten würde. Die österreichisch-serbische Angelegenheit ist eine rein private Auseinandersetzung, für die, wie gesagt, kein Mensch in Europa ein tiefergehendes Interesse haben würde, das in keiner Weise den europäischen Frieden bedrohen, sondern im Gegenteil ihn festigen würde, wenn nicht Russland sich eingemischt hätte. Das erst hat der Sache den bedrohlichen Charakter gegeben.

Österreich hat nur einen Teil seiner Streitkräfte, acht Armeekorps, gegen Serbien mobilisiert. Gerade genug, um seine Strafexpedition durchführen zu können. Demgegenüber trifft Russland alle Vorbereitungen, um die Armeekorps der Militärbezirke Kiew und Odessa und Moskau, in Summa zwölf Armeekorps, in kürzester Zeit mobilisieren zu können und verfügt ähnliche vorbereitende Massnahmen auch im Norden, der deutschen Grenze gegenüber und an der Ostsee. Es erklärt, mobilisieren zu wollen, wenn Österreich in Serbien einrückt, da es eine Zertrümmerung Serbiens durch Österreich nicht zugeben könne, obgleich Österreich erklärt hat, dass es an eine solche nicht denke.

Was wird und muss die weitere Folge sein? Österreich wird, wenn es in Serbien einrückt, nicht nur der serbischen Armee, sondern auch einer starken russischen Überlegenheit gegenüberstehen, es wird also den Krieg gegen Serbien nicht durchführen können, ohne sich gegen ein russisches Eingreifen zu sichern. Das heisst, es wird gezwungen sein, auch die andere Hälfte seines Heeres mobil zu machen, denn es kann sich unmöglich auf Gnade und Ungnade einem kriegsbereiten Russland ausliefern. Mit dem Augenblick aber, wo Österreich sein ganzes Heer mobil macht, wird der Zusammenstoss zwischen ihm und Russland unvermeidlich werden. Das aber ist für Deutschland der casus foederis. Will Deutschland nicht wortbrüchig werden und seinen Bundesgenossen der Vernichtung durch die russische Übermacht verfallen lassen, so muss es auch seinerseits mobil machen. Das wird auch die Mobilisierung der übrigen Militärbezirke Russlands zur Folge haben. Dann aber wird Russland sagen können, ich werde von Deutschland angegriffen, und damit wird es sich die Unterstützung Frankreichs sichern, das vertragsmässig verpflichtet ist, an dem Kriege teilzunehmen, wenn sein Bundesgenosse Russland angegriffen wird. Das so oft als reines Defensivbündnis gepriesene französisch-russische Abkommen, das nur geschaffen sein soll, um Angriffsplänen Deutschlands begegnen zu können, ist damit wirksam geworden, und die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten wird beginnen.

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