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Die „Risikoflotte”: Entwurf einer Aufzeichnung aus der Etatsabteilung des Reichsmarineamts (Februar 1900)

Als wichtigste Prämisse der von Alfred von Tirpitz geplanten „Risikoflotte“ sollte die deutsche Kriegsflotte letztlich groß genug sein, um eine gegnerische Macht davon abzuschrecken, sie herauszufordern. Bei der gegnerischen Macht hatte man hier vor allem Großbritannien im Auge. Die britische Ablehnung der deutschen Pläne beschleunigte den Rüstungswettlauf zwischen den beiden Ländern im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

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Es ist für uns unmöglich, den schwachen Punkt Englands zu treffen, den es in seinem Seehandel besitzt. Zum Kreuzerkriege gehören außer Kreuzern auch befestigte Stützpunkte, die den Schiffen als Operationsbasis dienen. An Auslandsschiffen sowohl wie an Stützpunkten ist der Vorsprung Englands [ . . . ] ein so enormer, daß eine Anstrengung Deutschlands nachzukommen, vergeblich sein würde.

Den zweiten verwundbaren Punkt Englands bildet das einer großen Armee entbehrende Mutterland selbst, sobald die schützende heimische Flotte niedergekämpft ist. Ist es für uns möglich, eine Schlachtflotte herzustellen, die im Stande ist, der heimischen Schlachtflotte Englands mit Erfolg entgegenzutreten, die für England das Risiko auftauchen läßt, seine heimische Schlachtflotte u[nd] damit den Schutz des Mutterlandes zu verlieren, so sind wir gegen einen Angriff Englands gesichert.

Die Zahlen der Nachweisung 1 bringen den Beweis, daß diese Möglichkeit für uns vorliegt. – Unsere Schlachtflotte, nach dem Flottengesetz ? so stark wie die englische, wird nach Durchführung der Novelle ? der englischen Schlachtflotte betragen.

Wenn man einwendet, daß England auch weiter bauen wird, so ist darauf zu erwidern, daß die Vergrößerung der englischen Flotte nicht in dem gleichen Verhältnis zunehmen kann wie die unserige, weil die Flotte infolge ihrer Größe ganz erheblich viel mehr Ersatzbauten erfordert. Die Nachweisung zeigt in der Anm[erkung] 6 zu Spalte 24, daß England bis zum Jahre 1920 11½ Millionen Tons, d. h. fast das 3-fache der Gesamtgröße der deutschen Flotte nach dem Flottengesetz an Ersatzbauten schaffen muß, will es in dem gen[annten] Jahre noch über leistungsfähiges Schiffsmaterial verfügen. Das Minus an Tonnengehalt, das unsere Schlachtflotte im Jahre 1920 der Englands gegenüber noch besitzen wird, soll durch besonders gute Ausbildung des Personals u[nd] in der taktischen Schulung im großen Verbande ausgeglichen werden. Diesem Zweck dienen die umfangreichen Indiensthaltungen, die bei uns sowohl nach dem Flottengesetz als auch nach der Novelle ca. ? der Gesamttonnage der Schlachtflotte betragen, in England etwa die Hälfte.

Die Zahlen in Spalte 24 u[nd] 36 über die in Dienst gehaltene Tonnage der beiden Schlachtflotten ergeben ein Übergewicht Deutschlands. Es ist bei der notorisch schwierigen Personalbeschaffung in England wenig wahrscheinlich, daß sich an dem günstigen Verhältnis etwas ändern wird.

Aus den vorstehenden Darlegungen geht hervor, daß es für Deutschland nur einen Weg gibt, um zu einer England gegenüber in die Waagschale fallenden Seegeltung zu kommen u[nd] dadurch den Frieden zu sichern: die Schaffung einer starken heimischen Schlachtflotte.

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Quelle: Auszüge aus dem Entwurf einer Aufzeichnung aus der Etatsabteilung des Reichsmarineamts vom Februar 1900. «Die Sicherung Deutschlands gegen einen englischen Angriff» Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RM 3/6657 AB 214-220.

Abgedruckt in Volker Berghahn und Wilhelm Diest, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik: Grundlegende Dokumente 1890-1914. Düsseldorf, 1988, S. 128-29.

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