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Die Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik in England (1. Januar 1907)

Die deutsche Entscheidung von 1897, eine eigene Schlachtflotte zu bauen, sorgte für große Spannungen im deutsch-britischen Verhältnis. Dies geht aus der folgenden, von Eyre Crowe (1864-1925) im britischen Außenministerium verfassten Denkschrift deutlich hervor. Crowe schildert die deutschen Ambitionen hinter dem Flottenbeschluss in den düstersten Farben.

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Englands Außenpolitik wird von seiner unveränderlichen geografischen Lage als Inselstaat an der Meeresflanke Europas und von seinen gigantischen überseeischen Kolonien und Schutzgebieten bestimmt, deren Existenz und Überleben als unabhängige Gemeinschaft untrennbar mit Englands Vormachtstellung auf den Meeren verbunden ist. Der enorme Einfluss dieser Vorherrschaft wurde in der zum Klassiker gewordenen Arbeit von Kapitän Mahan beschrieben. Niemand stellt sie in Frage. Eine Seemacht verfügt über mehr Macht als eine Landmacht, da sie ebenso durchdringend wirkt wie das Element, in dem sie sich bewegt und dem sie ihre Vormachtstellung verdankt. Ihr Respekt gebietendes Wesen rührt daher, dass ein maritimer Staat buchstäblich der Nachbar jedes vom Meer aus zugänglichen Landes ist. Es wäre folglich nur natürlich, wenn die Macht eines die Meere beherrschenden Staates überall Neid und Furcht erregte und sich folglich ständig in Gefahr befände, durch einen Zusammenschluss der ganzen Welt gestürzt zu werden. Einem solchen Zusammenschluss könnte keine einzelne Nation langfristig standhalten, am allerwenigsten ein kleines Inselkönigreich, das nicht über das Potenzial eines militärisch geschulten Volkes verfügt und bei seiner Nahrungsmittelversorgung vom Handel mit Übersee abhängig ist. Die Gefahr kann in der Praxis nur dann abgewendet werden – und die Geschichte zeigt, dass dies auch gelungen ist – wenn die nationale Politik des Insel- und Maritimstaates sich an den Bedürfnissen und Idealen der gesamten Menschheit orientiert und die primären und vitalen Interessen einer Mehrheit oder so vieler Nationen wie möglich vertritt. Nun, das primäre Interesse eines jeden Landes ist die Wahrung seiner nationalen Unabhängigkeit. Mehr als jede andere nichtinsulare Macht hat England ein direktes und positives Interesse an der Erhaltung der Unabhängigkeit anderer Staaten und muss folglich der natürliche Feind jedes Landes, das die Unabhängigkeit anderer bedroht, und der natürliche Beschützer schwächerer Gemeinschaften sein.

Direkt nach dem Ideal der Unabhängigkeit haben die Nationen immer das Recht auf freien Verkehr und Handel auf den Weltmärkten hochgehalten, und da England stets für das Prinzip größtmöglicher Freiheit des Handels eingetreten ist, stärkt es zweifellos die Erhaltung der Freundschaft zwischen den Nationen, zumindest insofern als die maritime Vorherrschaft eines auf Freihandel eingeschworenen England sie weniger bedroht als die Vormachtstellung einer protektionistischen Macht. Dies ist ein Aspekt des freien Handels, der gern übersehen wird. Es besteht keine Frage, dass jedes Land, hätte es die Wahl, es natürlich vorziehen würde, selbst Herrscher über die Meere zu sein, da diese Möglichkeit aber ausgeschlossen ist, sieht man lieber England in dieser Rolle als irgend einen anderen Staat.

Die Geschichte zeigt, dass eine Bedrohung der Unabhängigkeit dieser oder jener Nation sich zumindest teilweise aus der Vormachtstellung eines Nachbarstaats ergibt, der sowohl militärisch mächtig und wirtschaftlich leistungsfähig ist als auch eine Ausdehnung seiner Grenzen oder seines Einflusses anstrebt, wobei die Gefahr proportional zu seiner Macht und Leistungsfähigkeit ebenso wie zur Spontaneität oder „Unvermeidbarkeit“ seines Ehrgeizes ansteigt. Den einzigen Schutz vor dem Missbrauch einer solchen sich aus dieser Position ergebenden politischen Dominanz sichert seit jeher ein in gleicher Weise Respekt gebietender Gegner oder ein Zusammenschluss mehrerer Länder zu einem Verteidigungsbündnis. Die durch eine solche Bündelung hergestellte Balance gilt technisch als Gleichgewicht der Mächte, und es ist bereits ein historischer Gemeinplatz, die säkulare Politik Englands mit der Wahrung dieses Gleichgewichts in eins zu setzen, wobei es sein Gewicht mal in diese und mal in jene Waagschale wirft, aber in jedem Fall gegen die politische Diktatur des stärksten Einzelstaates oder der stärksten Staatengruppe eintritt.

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