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Eine deutsche Stimme gegen die Germanisierungspolitik (1914)

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 unter preußischer Führung schien es notwendig, die Deutschen kulturell, politisch und symbolisch stärker zu verbinden. Dies führte dazu, dass ethnischen und linguistischen Gruppen wie den Sorben, Litauern, Dänen und Polen der Minderheitenstatus verweigert wurde. Auch genossen ihre Sprachen und kulturellen Traditionen keinen Schutz. Während Sorben und Litauer weitestgehend assimiliert waren, wurden die 500.000 in Schleswig lebenden Dänen und dreieinhalb Millionen Polen Opfer einer aggressiven Akkulturationspolitik. Ihnen wurde der Zugang zu Bildung in ihrer eigenen Sprache versperrt und verboten, etwas anderes als deutsch zu sprechen. In einigen Fällen kam es zu Ausweisungen. Der Berliner Geschichtsprofessor Hans Delbrück (1848-1929) bezieht hier kritisch Stellung zur deutschen Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten.

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[ . . . ] Im modernen Nationalstaat ist es eine ganz besonders schwierige Aufgabe, wenn wesentliche Elemente einer fremden Nationalität eingeschlossen sind. Wie soll sich ein Staat der Deutschen, der doch ganz und gar auf das lebendige Bewußtsein des deutschen Volkes aufgebaut ist, damit abfinden, daß er nicht weniger als 4 Millionen Polen, und daneben noch Dänen im Norden, Franzosen im Westen, in seinem Reichs- und Staatskörper hat? Eine reine Lösung dieses Problems kann es wohl niemals geben. Man pflegt zu sagen und wird immer mit einem gewissen Recht sagen: die Polen sind schließlich nur Preußen auf Kündigung. Sie leisten den Eid auf die Verfassung, tun ihre Pflicht, arbeiten auch an den positiven augenblicklichen Aufgaben des Staates – den polnischen Stimmen verdanken wir ja im Reichstag die deutsche Flotte und die Armeereform von 1893 – und trotzdem, wenn man sich vorstellt, daß die Weltgeschichte, oder, wie die Polen es ausdrücken, »wenn es Gottes Wille ist«, einmal die Möglichkeit der Herstellung eines polnischen Nationalstaates zeigt, so werden sie das als ein höheres Gesetz ansehen und sich diesem Staate zuwenden. Wie soll man sich mit einem solchen Teil des Volkes abfinden? Entschlossene meinen, man müßte sie germanisieren. Das wurde denn auch vor 25 Jahren in Angriff genommen. Wir haben ja die Volksschule, den deutschen Schulmeister. Vom sechsten Jahre an lernen die polnischen Kinder das Deutsche, und was sie in der Schule gelernt haben, wird vollendet in der Armee; die polnischen Rekruten werden unter die deutschen Regimenter verteilt. Die ganze Verwaltung ist deutsch, die Amtssprache deutsch, alle höheren Beamten deutsch. Außerdem sind ungeheure Mittel aufgewendet, polnischen Grundbesitz aufzukaufen und statt dessen deutsche Bauern anzusiedeln. Wenn man das so hört, möchte man sagen: Ja, das muß ja wohl auf die Dauer helfen, um so mehr, als ja die Polen auf vier verschiedene Provinzen verteilt sind; wir haben 1,2 Million in Oberschlesien, in Posen ungefähr 1½ Millionen, ½ Million in West-, und ½ Million in Ostpreußen, immer gemischt mit Deutschen; wir haben nirgends großes, geschlossenes polnisches Gebiet, auch nicht einmal einen einzigen rein polnischen Kreis. [ . . . ]

Zwar sucht die amtliche Statistik hier und da ein paar tausend Deutsche mehr herauszurechnen; es sind bei weitem noch nicht so viel, wie an deutschen Bauern hingeschafft worden ist. Aber die Eingesessenen sind sehr skeptisch inbezug auf diese Statistik, und wahrscheinlich ist das Deutschtum in den vier Provinzen sogar im Rückgang. [ . . . ]

Also die Germanisierungspolitik, das sieht man jetzt – abgesehen von den fanatischen Hakatisten – ziemlich allenthalben ein, hat Bankerott gemacht. Sie hat das Polentum numerisch nicht geschwächt und es moralisch ungeheuer gestärkt. [ . . . ]

Der Germanisierung der Volksschule parallel ging die allmähliche Germanisierung des ganzen höheren Beamtenstandes. Während früher im höheren Beamtenstand, auch im Offizierkorps, zahlreiche Polen waren, sind sie allmählich so gut wie ganz daraus verschwunden. [ . . . ]

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