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„Sylvesterbrief” des Reichskanzlers Bülow (31. Dezember 1906)

Im Vorfeld der anstehenden Reichstagswahlen spielt Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929) die möglichen politischen Koalitionen durch und warnt die „bürgerlichen Parteien“ davor, ein Bündnis mit der Sozialdemokratischen Partei einzugehen. Obwohl die Sozialdemokraten Revolutionsideale fallen gelassen hatten und stattdessen bereit waren, im Rahmen des parlamentarischen Systems auf soziale Gerechtigkeit hinzuwirken, wollten die meisten politischen Führer jeglichen Machtgewinn der Sozialdemokraten verhindern.

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In Deutschland gibt es keine einheitliche liberale Partei, die den klaren Willen und die Fähigkeit gezeigt hätte, positive Politik zu machen. Es ist jetzt nicht der Augenblick, Fehler, die begangen, Gelegenheiten, die versäumt worden sind, nachzurechnen. Jedenfalls haben es innere Uneinigkeit, negativer Doktrinarismus, Übertreibung der Prinzipien und Unterschätzung des praktisch Erreichbaren nicht zu dem vom Liberalismus erstrebten Einfluß auf die Regierungsgeschäfte kommen lassen. Erst im letzten Jahrzehnt hat sich darin manches geändert. Ich denke an Eugen Richters Kampf gegen die Sozialdemokratie, an die fortschreitende Überwindung der Manchester-Doktrin, vor allem an das wachsende Verständnis für große nationale Fragen. Manches wird noch zu lernen sein: Maßhalten, richtiges Augenmaß und Blick in die Nähe, Sinn für historische Kontinuität und reale Bedürfnisse.

Ich glaube nun keineswegs, daß aus den Wahlen eine große geeignete liberale Partei hervorgehen und dann den Platz des Zentrums einnehmen könnte. Wohl aber könnten die Parteien der Rechten, die Nationalliberale Partei und die weiter links stehenden freisinnigen Gruppen bei zielbewußtem Vorgehen im Wahlkampf soviel Boden gewinnen, um eine Mehrheit von Fall zu Fall zu bilden. Den starken Gegensatz, der bisher zwischen den Parteien der Rechten und denen der bürgerlichen Linken in wirtschaftlichen Fragen bestanden hat, halte ich für kein unüberwindliches Hindernis. Der unbedingt notwendige Schutz der Landwirtschaft ist in den neuen Handelsverträgen auf ein Jahrzehnt hinaus gesichert, und mancher freisinnige Mann hat schon unter vier Augen zugegeben, daß sie auch für die städtischen Interessen nicht ungünstig gewirkt haben. Jedenfalls müssen die Gegner der Handelsverträge anerkennen, daß sich Handel und Industrie fortdauernden Aufschwunges erfreuen.

Andererseits führt bereits eine gute Brücke über das trennende Wasser. Die konservativen Parteien und die Nationalliberalen sind in allen großen Fragen, wo es sich um Wohl und Wehe der Nation, ihre Einheit, ihre Machtstellung handelte, zuverlässig gewesen. Die Nation ging ihnen über die Partei. Das ist ihr Ruhm, den werden sie behaupten. Je mehr auf der Linken die Bereitschaft zur Befriedigung der großen nationalen Bedürfnisse für den Kolonialbesitz, für Heer und Flotte zunimmt, um so breiter und fester kann die Brücke werden.

Hier bietet sich ein weiteres hochwichtiges Feld gemeinsamer Sorgen und Arbeit aller nationalen Elemente. Entgegen der leider in einigen liberalen Köpfen noch herrschenden Idee, daß die Reaktion im Reiche von rechts drohe und Seite an Seite mit der Sozialdemokratie zu bekämpfen sei, liegt nach meiner festen Überzeugung die wahre Reaktion oder die wahre Gefahr der Reaktion bei der Sozialdemokratie. Nicht nur sind ihre kommunistischen Zukunftsträume kulturfeindlich, die Mittel zu ihrer Verwirklichung brutaler Zwang – alles, was sich etwa irgendwo in Deutschland an reaktionärer Gesinnung findet, gewinnt Kraft und Recht durch die sozialistische Unterwühlung der Begriffe von Obrigkeit, Eigentum, Religion und Vaterland. Auf den wildgewordenen Spießbürger und phrasentrunkenen Gleichmacher Robespierre folgte der Degen Bonapartes. Er mußte kommen, um das französische Volk von der Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten zu befreien.

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