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Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn von Ludwig Quidde (1894)

Der Historiker, Politiker und Friedensaktivist Ludwig Quidde (1858-1941) veröffentlichte 1894 eine Schrift mit dem Titel Caligula: Eine Studie über römischen Cäsarenwahn. Dabei schien es sich zunächst um eine Untersuchung über den römischen Kaiser Caligula und die unheilvollen Konsequenzen seiner psychischen Verfassung für das Römische Reich zu handeln. Zeitgenössische Leser erkannten jedoch den wahren Gegenstand von Quiddes Analyse – Wilhelm II. Quiddes „historische“ Erzählung eines unberechenbaren Kaisers, dessen Regierungszeit durch Niedergang und Dekadenz gekennzeichnet war, stellt eine kaum verhüllte Kritik am politischen Leben im Wilhelminischen Deutschland dar.

Quidde gelang es, einer Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung nur dadurch zu entgehen, dass er die Anklagepunkte leugnete und die Staatsanwaltschaft in die peinliche Lage brachte, auf den Ähnlichkeiten zu beharren. Der Vorfall beendete trotzdem effektiv seine Forscherlaufbahn. (Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass Professoren in Deutschland allesamt Mitglieder des deutschen Beamtenstandes und als solche Staatsbedienstete waren.)

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Gajus Cäsar, bekannt unter seinem Beinamen Caligula (d. h. Stiefelchen), war noch sehr jung, noch nicht zum Manne gereift, als er unerwartet zur Herrschaft berufen wurde. Dunkel und unheimlich waren die Vorgänge bei seiner Erhebung, wunderbar die früheren Schicksale seines Hauses. Fern von der Heimat war der Vater noch in der Blüte seiner Jahre einem tückischen Geschick erlegen, und im Volke sprach man viel von geheimnisvollen Umständen dieses Todes; man schreckte vor den schlimmsten Beschuldigungen nicht zurück, und bis in die Nähe des alten Kaisers wagte sich der Verdacht (1). Dem Volke war sein Liebling mit ihm genommen; einer Popularität wie kein anderes Mitglied des Kaiserhauses hatte er sich erfreut (2). Dem Soldaten war er vertraut aus vielen Feldzügen, in denen er mit dem gemeinen Mann die Beschwerden des Krieges geteilt hatte, die deutschen Lande, — die Gegenden am Rhein waren voll seines Namens. Doch nicht nur als Kriegsheld war er dem Volke erschienen; er war im besten Sinne populär gewesen. Sein Familienleben, die Schar seiner Kinder (3), die schlichte bürgerliche Art (4), der freundliche Gleichmut in allen Lagen, das gewinnende Scherzwort in seinem Munde (5) hatten ihm wie die Soldaten auch die Bürger verbunden. Solange der alte Kaiser lebte, war er freilich, so hohe Ämter ihm auch übertragen wurden, für die wichtigsten Fragen der inneren Politik bei aller Schaffenskraft und Schaffenslust zur Unthätigkeit verdammt; wäre er aber zur Regierung gekommen, so hätte man freiere, glücklichere Tage von ihm erwarten dürfen, die Beseitigung des dumpfen Druckes, der auf dem ganzen Reiche lastete. So war die Hoffnung einer ganzen Generation mit Germanicus ins Grab gesunken.

Von diesem Liebling des Volkes strahlte ein Schimmer von Popularität auch auf den Sohn hinüber (6), der freilich sonst ganz unähnlich seinem Vater heranwuchs, vielleicht der stolzen und leidenschaftlichen Mutter (7) ähnlicher, die die an sich nicht leichte Stellung ihres Gatten gewiß oft noch erschwert hatte, und zugleich bevorzugt von dem alten Kaiser, der des Germanicus Gattin und Kinder mit Haß und Argwohn verfolgte, für Gajus aber eine gewisse Zuneigung gehegt zu haben scheint, vielleicht nur, weil er das gerade Widerspiel des ihm so unsympathischen Vaters in ihm sah.


(1) Vergl, Dio Cassius 57, 18 (Zonaras XI, 5). Tacitus, Ann. II, 72 und III, 16. Sueton, Caligula 1 und 2. Plinius, Nat. hist. XI, 71.
(2) Tacitus, Ann. I, 7; 33. II, 13. Sueton, Caligula 3 und 4. Dio Cassius 57, 18.
(3) Es waren im ganzen neun Kinder gewesen; zwei starben ganz klein, ein drittes, ein besonders viel versprechender reizender Knabe, wurde auch noch in zartem Alter den Eltern entrissen, sechs Kinder dagegen überlebten den Vater (s. Sueton 7).
(4) Sueton 3, auch Tacitus l. c.
(5) Patientiam, comitatem, per seria per jocos eundem animum. Tacitus, Ann. II, 13.
(6) Sueton 9, 13. Josephus, Antiquitates XVIII, 6, 8.
(7) Tacitus, Ann. II, 72. IV, 52; 53.

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