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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

Der folgende Auszug ist der Vorrede zur zweiten Auflage (1912) eines klassischen Textes des Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) entnommen. Tönnies verfasste die 1887 erstmals veröffentlichte Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“ als Reaktion auf die modernen Lebensbedingungen im Wilhelminischen Deutschland. Er vergleicht die sozialen Beziehungen in traditionellen und modernen Gesellschaften und argumentiert, dass erstere weit stärkere zwischenmenschliche Bindekräfte entwickelten. Tönnies’ frühe Lebenserfahrungen gelten vielfach als provinziell. Trotz ausgedehnter Reisen verbrachte er sein gesamtes Leben in Schleswig-Holstein, wo er geboren worden war. Er war daher von einer spezifischen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens geprägt, die dem Menschen das nachhaltige Gefühl gab, fest in seine Umgebung eingebunden zu sein – in die Natur, nachbarschaftliche Beziehungen, das kulturelle Umfeld und letztlich in alle Lebensbereiche. Tönnies unternahm zahlreiche Reisen zu verschiedenen Universitäten und in die Hauptstädte des europäischen Kontinents, die ihm ermöglichten, städtische und ländliche Lebensweisen und ihre kontrastierenden gesellschaftlichen Formen zu vergleichen. Er unterschied zum Beispiel zwischen den engen sozialen Bindungen auf dem Land und den unpersönlichen Beziehungen, durch die seiner Ansicht nach das städtische Leben charakterisiert war. Während der Bauer eng mit seiner Familie verwurzelt war, boten dem Stadtmenschen der anonyme Marktplatz und öffentliche Einrichtungen ein Zuhause. Tönnies Werk ist von bleibendem Einfluss, da es über nostalgische Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinausgeht. Es reflektiert auf differenzierte Weise die Aufteilung zwischen traditionell geprägter und städtischer Gesellschaft: Zwischen den engen familiären Beziehungen, der Verwandtschaft und dem Leben innerhalb einer kleinen Gemeinde auf der einen Seite und den unpersönlichen Bündnissen, die aus der modernen Politik, Wirtschaftsbeziehungen und staatlichen Machtverhältnissen entstanden sind, auf der anderen Seite.

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Die moderne Philosophie ist mit und an der Naturwissenschaft erwachsen. Vor 200 Jahren herrschte noch an allen Universitäten Europas die aristotelisch-scholastische Naturphilosophie und die dazu gehörige moralische Theologie, theologische Rechtsphilosophie und Soziallehre. Das 18. Jahrhundert brachte wenigstens im protestantischen Deutschland, die Revolution in Frankreich die Modernisierung: die Hochschulen folgten der bürgerlichen Bewegung und ihrem politischen Fortschritt.

Auch die an der mechanistischen Naturerkenntnis sich emporrankende Philosophie hatte eine Rechtsphilosophie und eine Sozialtheorie, ja diese waren für sie die Hauptstücke der Ethik. Und die Tendenz dieser 'praktischen' Philosophie war notwendig antitheologisch, antifeudal, antimittelalterlich, sie war individualistisch und darum (nach meinen Begriffen) gesellschaftlich.

Ihre großen historisch epochemachenden Leistungen sind das (rationalistische und spezifisch so genannte) Naturrecht und die mit ihm innerlich tief zusammenhängende (wie W. Hasbach eingehend nachgewiesen hat) physiokratische, in der 'klassischen' englischen Schule sich fortsetzende 'politische Ökonomie'. Ich hatte in meiner Vorrede zur 1. Ausgabe dieser Schrift jenes der Geometrie, diese der abstrakten Mechanik verglichen.

Naturrecht und politische Ökonomie wirkten mächtig mit zur Gestaltung der sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Gesellschaft, wie des ebenso sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Staates. Beide Entwicklungen geschahen unter dem Zeichen der Revolution — die große französische Revolution, die auch das heilige römische Reich vernichtete, und die kleinen Revolutionen, die in Frankreich und in Deutschland — hier zum Teil durch die Aktion der in Ursprung und Energie revolutionären preußischen Monarchie — während des 19. Jahrhunderts sich anschlossen; diese Revolutionen gaben dem Kapital wie der Gesetzgebung, die zunächst wesentlich zu dessen Förderung sich entfaltete, die gewaltigen Impulse.

Alle Revolutionen aber lösen mächtige Gegenbewegungen aus. Die Restaurationen und reaktionären Tendenzen folgen mit deutlicher Notwendigkeit ihren Erschütterungen.

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