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Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (1906)

Der protestantische Theologe und Politiker Friedrich Naumann (1860-1919) versuchte, christliche Wertideen, die industrielle Wirtschaftsordnung und liberale Demokratievorstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Er stand den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung wohlwollend gegenüber. In seinem Werk Neudeutsche Wirtschaftspolitik prägte er den Begriff des „industriellen Parlamentarismus“. Danach sollten die Gewerkschaften in die parlamentarische Demokratie eingebunden werden, um sich in diesem Rahmen friedlich zu entfalten. Naumann war Mitbegründer der Fortschrittlichen Volkspartei (1910) und der Deutschen Demokratischen Partei (1918), die sich beide zu führenden liberalen Parteien in Deutschland entwickelten.

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Alle Verhältnisse werden vom Gedanken der Organisation, das ist der Regelung der Menge, durchdrungen. Es wird ein Stolz des Menschen, in großen Betrieben zu stehen, in weite Verbindungen hineingezogen zu sein. Oft ist dieser Stolz noch gemischt mit einem schmerzlichen Rückblick auf Zeiten, wo der einzelne für sich etwas war. Aber was hilft es? Selbst der Landmann beginnt sich zu organisieren. Alle fühlen, daß sie gemeinsam ihre Geschäfte machen müssen, daß auf Vereinzelung wirtschaftliche Todesstrafe gesetzt ist.

Diese Änderung unserer Gegenwart ist eines der interessantesten Erlebnisse. Es kommt uns allen unerwartet, denn die Parole der geistigen Bewegung, die der Gegenwart vorausging, war die Unabhängigkeit des Einzelmenschen. Die Philosophen, besonders Kant und Fichte, haben das Ich in die Höhe gehoben, die Dichter, vor allem Schiller, haben es gefeiert, die ganze Strömung des bürgerlichen Liberalismus war voll von dem Klang und Widerklang: Der Einzelne ist seines Glückes Schmied! Man zerbrach die alten Verbände und Zünfte, um den einzelnen freizumachen, und verlangte vom Staat, daß er nichts anderes tue, als das Eigentum zu schützen und den einzelnen sich bewegen zu lassen. Mit viel echtem Idealismus wurde diese Kunde vom Sieg des Individualismus vernommen und weitergegeben. Und doch ist heute alles voll von Motiven anderer Art. Alle Teile des Volkes treten mit Forderungen an den Staat heran. Die Forderungen der Sozialisten und Bodenreformer, die auf öffentliche Regelung der Produktion, des Wohnungs- und Hypothekenwesens hinauslaufen, finden willige Hörer. Der Staat und die Verbände werden Wirtschaftsfaktoren, an deren Notwendigkeit man glaubt. So wirkte das Wachsen der Masse. [ . . . ]

Das heißt aber mit anderen Worten: die Wirtschaftsleitung wird den Produzenten aus der Hand genommen und geht teils in die Verbände, teils an den Staat über. Die Zahl der wirtschaftlich leitenden Personen wird immer kleiner. Oft ist die Leitung nur noch Schein. Ein kleiner Kaufmann muß trotz formaler Freiheit genau das tun, was seine Verkaufsstelle von ihm fordert. Er zahlt die Miete, die in seiner Straße üblich ist, führt die Waren, die von den Verbänden der Fabrikanten oder von seinem Verkaufsverein normiert sind, nähert sich im Grade seiner Selbständigkeit langsam der Lage der Angestellten der Konsumvereine. Der Tierzüchter muß marktgängige Ware liefern und findet deren Preis in der Zeitung. Es verbreitet sich ein Geist der Gebundenheit an ein dunkles Ganzes, das uns alle umfängt. Nicht als ob sich nicht besondere Talente der Bindung entziehen könnten, aber für den Durchschnittsmenschen sind die Existenzbedingungen festgelegt. Er kann sie als Glied seiner Gruppe zu verbessern suchen, aber nicht als persönliches Ich. Deshalb zahlt er Beiträge für seine Gruppenvertretung.



Quelle: Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (1906), in Werke, herausgegeben von der Friedrich-Naumann-Stiftung, Band 3: Schriften zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, herausgegeben von Theodor Schieder. Köln/Opladen, 1966, S. 104f.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen. München: C.H. Beck, 1982, S. 32-33.

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