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Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform” (1903)

Der wachsende Konflikt zwischen Arbeiterschaft und bürgerlichen Schichten bildete die größte politische Herausforderung seit der nationalen Einigung von 1871. Hier erläutert Hans Hermann Freiherr von Berlepsch (1843-1926), ehemaliger preußischer Minister für Handel und Gewerbe (1890-1896), der Gesellschaft für Soziale Reform die Beweggründe seines politischen Handelns. Er setzte sich für eine Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter ein und sprach sich für die Anerkennung der Sozialdemokratischen Partei als Träger politischer Mobilisierung aus. Seine Haltung stieß auf Kritik, und 1896 legte er sein Amt aufgrund des politischen Drucks nieder.

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Die Entwicklung unserer kulturellen und sozialen Zustände hatte den Arbeiter in dem Lande des gleichen Wahlrechts, der Schul- und Militärpflicht dahin geführt, daß er nicht mehr der nur Geleitete und Gehorchende sein wollte, daß er bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die für ihn die Gestaltung der Lebensbedingungen bedeutet, mitreden wollte, daß er die Gleichberechtigung in Anspruch nahm, von welcher der Kaiserliche Erlaß vom 4. Februar 1890 redet. Wer kann auch nur mit einem Schein von Gerechtigkeit dieses Streben mißbilligen? Mit welchem Recht will man dem Arbeiter verweigern, was man allen anderen Klassen von Staatsbürgern gestattet, sich zu vereinigen, um den Preis ihrer Ware, hier der Ware „Arbeit", zu halten oder zu heben, um die Arbeitsbedingungen und damit ihre Lebenslage zu verbessern? Dasselbe zu tun, was die Unternehmer in ungezählten Kartellen und Trusts, in Zentralverbänden und Vereinigungen aller Art ungehindert tun? Wer hat davon gehört, daß man diesen und besitzenden Klassen Schwierigkeiten bereitet, hergeleitet aus dem politischen Vereinsgesetz, weil sie, die gegründet sind zur Wahrung ihrer Berufsinteressen, die Gesetzgebung des Staats für ihre Zwecke in Anspruch nehmen?

Und doch geschieht das den Arbeitervereinen, den Gewerkschaften gegenüber fortgesetzt in Deutschland [ . . . ]; fortgesetzt wird in den Arbeitern durch Urteile der Gerichte und Handlungen der Verwaltungsbehörden das bittere Gefühl erzeugt, daß die ihnen gebührende und ausdrücklich zugesagte Gleichberechtigung nicht gewahrt wird, daß sie mit anderem Maße gemessen werden als die anderen deutschen Staatsbürger.

Auf die Frage, mit welchem Recht denn man diese unterschiedliche Behandlung macht, ist noch nie eine rechtfertigende Antwort erteilt worden, noch nie hat man behauptet, daß sie in den bestehenden Gesetzen eine Begründung finde, noch nie hat man bestritten, daß durch die Handhabung des politischen Vereinsrechts den Arbeiter- und Berufsvereinen Hindernisse bereitet und Fesseln angelegt werden, von denen die Vereine anderer Berufsklassen verschont werden. Man kann das nicht bestreiten, ja vielfach will man das gar nicht bestreiten und man bringt auch einen Grund für diese offensichtliche Ungerechtigkeit vor, den Grund nämlich: daß, da die Gewerkschaften vorwiegend oder ausschließlich aus sozialdemokratischen Mitgliedern beständen, da sie tatsächlich Organisationen der politischen Sozialdemokratie seien, wenn auch ihre Statuten lediglich die Verfolgung von Berufsinteressen bezwecken, durch die ungestörte Entfaltung der Vereinstätigkeit der Gewerkschaften nur eine Stärkung der Sozialdemokratie erreicht werden würde. [ . . . ]

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