I. „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906)    Ja, die Großstadt macht klein.
  Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
  durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
  und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
  seines Kiefern- und Eichen-Forstes
  wie ein Zaubermeister ausnimmt,
  ist zwischen diesen prahlenden Mauern
  nur ein verbauertes altes Männchen.
  O laßt euch rühren, ihr Tausende!
  Einst sah ich euch in sternklarer Winternacht
  zwischen den trüben Reihen der Gaslaternen
  wie einen ungeheuern Heerwurm
  den Ausweg aus eurer Drangsal suchen;
  dann aber krocht ihr in einen bezahlten Saal
  und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen
  von Freiheit, Gleichheit und dergleichen.
  Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen:
  sie wurzeln fest und lassen sich züchten,
  und jeder bäumt sich anders zum Licht.
  Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
  euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
  Ihr steht und schafft euch Zuchthausmauern –
  so geht doch, schafft euch Land! Land! rührt euch!
  vorwärts! rückt aus! –
  
  
  
  
  Quelle: Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906), Aber die Liebe: Meine Verse. Berlin, 1906, S. 171.  
  Abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 344-46.