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Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk” (1906) and „Die neue Würde” (1903)

Richard Dehmel (1863-1920), einer der bekanntesten Lyriker der Wilhelminischen Ära, vertritt in „Predigt ans Großstadtvolk“ eine kritische Sicht auf das städtische Leben. Das Gedicht beschreibt die Stadt als Nährboden für gesellschaftliche Konflikte und politische Agitation, während die Natur als Zufluchtsstätte vor städtischer Entfremdung und Grundlage zur Entwicklung eines stärkeren Gemeinschaftssinns dargestellt wird. In „Die neue Würde“ entwickelt Dehmel eine Vorstellung vom Menschen als Maß aller Dinge.

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I. „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906)

Ja, die Großstadt macht klein.
Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
seines Kiefern- und Eichen-Forstes
wie ein Zaubermeister ausnimmt,
ist zwischen diesen prahlenden Mauern
nur ein verbauertes altes Männchen.
O laßt euch rühren, ihr Tausende!
Einst sah ich euch in sternklarer Winternacht
zwischen den trüben Reihen der Gaslaternen
wie einen ungeheuern Heerwurm
den Ausweg aus eurer Drangsal suchen;
dann aber krocht ihr in einen bezahlten Saal
und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen
von Freiheit, Gleichheit und dergleichen.
Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen:
sie wurzeln fest und lassen sich züchten,
und jeder bäumt sich anders zum Licht.
Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
Ihr steht und schafft euch Zuchthausmauern –
so geht doch, schafft euch Land! Land! rührt euch!
vorwärts! rückt aus! –




Quelle: Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk“ (1906), Aber die Liebe: Meine Verse. Berlin, 1906, S. 171.

Abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 344-46.

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