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Kirche und Religiosität auf dem Lande (1905)

Die religiösen Rituale eines katholischen Dorfes in Schlesien gewähren Einblick in die dörflichen Hierarchien, so wie sie im Dienst für die Kirche und in der verbindenden Kraft gemeinschaftlicher Rituale zum Ausdruck kamen.

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Als mich die Mutter zum ersten Kirchgang bestimmte, mochte ich kaum vier Jahre alt gewesen sein. Diesen ersten, unvergeßlichen Gang zur Frömmigkeit hatte mein älterer Cousin Rudolf zu beaufsichtigen. Damals war unsere Kirche noch sehr klein, erst nach dem Umbau wurde sie geräumig und um das Doppelte vergrößert. Allein ihr Zwiebelturm, ein Wahrzeichen weit und breit, blieb unverändert. Der Umbau geschah im Jahre 1912. Jetzt aber erzähle ich vom Jahre 1905. In der alten Kirche mußten die Menschen schier aufeinander knien, die Kinder dicht vor dem Altar, auf nackten Fliesen. Das schmerzte heftig in den Knien, im Winter wollte dieses Knien bei grimmiger Kälte erst recht nicht behagen, aber man durfte sich nicht erheben.

In den beiden Bänken der Honoratioren, dicht vor dem Hochaltar, saßen Brennereiverwalter und Gutsinspektor mit ihren Frauen. Die übrige Christengemeinde hatte auf ihren Knien zu verharren, von einigen Bauerngeschlechtern abgesehen, soweit sie im überlieferten Besitz der wenigen Kirchenbänke waren. Aus dieser Zeit rührt meine auswendige Kenntnis aller lateinischen Meß- und sonstigen Gesänge des Priesters vor dem Hochaltar her. Das alles ist mechanisch in mich eingegangen, und dieser Mechanismus des Unterbewußtseins ist mir geblieben, mich zuweilen überwältigend.

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Die magnetische Kontrolle durch [ . . . ] dörfisch heimatliche Kräfte hält mich nach wie vor in ihrem Bann. Dort liest man Messen zu den verschiedensten Zwecken. Insbesondere für abgeschiedene Seelen, jährlich mindestens einmal, über Jahrzehnte hinweg. Möglicherweise küßt man dort auch heute dem Pfarrer immer noch die Hand. Ein großmächtiges Bild der schwarzen Muttergottes von Tschenstochau, mit überall anwesendem Blick, hinderte mich in der Kindheit stets, den Eltern in diesem Raum auch nur einen Pfennig zu stehlen. Dort habe ich vor dem Schlafengehen und nach dem Erwachen kniefällig das Vaterunser gebetet, dazu Ave Maria, Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote Gottes, zum Schluß noch ein Vaterunser für abgeschiedene Angehörige. Beim Ertönen der Morgen-, Mittag- und Abendglocke hatte ich mit aller Selbstverständlichkeit den Engelsgruß zu entbieten. Zwingendes Gesetz aus religiöser Ehrfurcht war es, vors Haus zu treten und das Knie zu beugen, wenn der Geistliche vorüberging mit dem Sterbesakrament, angekündigt durch das leise Glöcklein des Ministranten oder Kirchendieners. Obwohl ich diesen Verrichtungen seit Jahrzehnten völlig entrückt bin, würde ich mitten im Weltstadtverkehr von Berlin wahrscheinlich immer noch mein Knie ehrfürchtig beugen und einem mystischen Drang genügen, begegnete mir etwa ein Priester auf dem besagten Sterbegang.



Quelle: August Scholtis, Ein Herr aus Bolatitz: Lebenserinnerungen. München, 1959, S. 26, 56.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 79-80.

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