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Das Kino (1913)

In Deutschland stießen die ersten Filme auf ähnliche Reaktionen wie in England und Frankreich. Das neue Medium erregte das Interesse des Publikums, zog aber gleichzeitig kritischen Spott auf sich. Der Film schuf eine neue Form des öffentlichen Raumes und durchbrach auf diese Weise gesellschaftliche Schranken. Gleichzeitig löste sein Aufstieg bei Kulturschaffenden und Erziehern Unbehagen aus, da jene glaubten, der Film könne zu einer Gefahr für die Literatur werden. Ulrich Rauschers Stück, das 1913 erstmals veröffentlicht wurde, belegt dieses Spannungsverhältnis zwischen experimenteller Begeisterung, öffentlichem Interesse und konservativem Misstrauen.

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Ich sitze gern im Kintop. Ich amüsiere mich über dies Zurückfallen vor hellster Oeffentlichkeit in das geheime Laster des Kolportageromans. Alle Heuchelei ist verbannt, das Publikum sitzt in seiner unbestrittenen Domäne und der Verein für Volksbildung nagt an einem dürren Kohlblatt – wie die Raupen, deren Entwicklungsfilm eben dieses Kohlblatt der Konzession an die Volksbildung zwischen den Szenen aus dem Leben der höchsten Gesellschaft und ihren Lastern darstellt. Alle Scham, die wir in langen Jahren selbst den Schmierendirektoren und dem Mittelstand aufgezwungen haben, existiert für den Filmfabrikanten nicht. Der Kintop hat Narrenfreiheit; was sich selbst in Librettogehirnen nie und nimmer hat begeben, das darf im Lichtspiel auferstehen. Die Fabel des Kintopdramas kann so saudumm und so leicht zu erraten sein, wie sie will: wenn die Verbindung ihrer Bruchstücke nur durch recht rasende Autofahrten garantiert ist, jubelt das Publikum. Das Tempo dieser Dichtungen ist die dritte Geschwindigkeit.

Dabei hat der Kintop eine Vorbedingung für den Publikumserfolg, mit dem er gerade das Theater unfehlbar schlägt: Man sieht die Vorgänge wie auf der Bühne, es werden also keine Ansprüche an eine nicht vorhandene Phantasie gestellt, und trotzdem ist das Prinzip seiner Darstellung episch, novellistisch, fabulierend. Er wiederholt, greift zurück, erinnert, läßt nicht einen Handlungszusammenhang ganz ablaufen, sondern greift rasch den und jenen erzählerisch wichtigen Punkt heraus, macht mit einem abrupt eingeschobenen Bild auf irgendetwas aufmerksam und bringt dann zwischendurch wieder etwas nur zum Ansehen, eine Landschaft, eine Kahnfahrt, ein Autorennen. Der Kintop erspart, wie das Schauspiel, Phantasieausgaben und arbeitet mit allen Faulheitsbrücken des Buchs, das er dadurch wieder übertrifft, daß er Wichtiges bedeutsam herausheben kann, über das der Herr Leser im Buch hinweggleiten könnte. Der Kintop bedient die vollkommenste Trägheit und ist daher unbesiegbar!

Seien wir paradox: das Wort Kinotheater ist Unsinn, weil der Kintop ganz auf epischen Grundsätzen aufgebaut ist, und dennoch hab' ich fast die beste Schauspielerin im Kintop gesehen und studiert. Gerade, weil der Kinematograph nichts mit dem Theater gemein hat, als seine Aeußerlichkeit, weil ihm die Allgegenwart des ganzen Bühnenbildes fehlt, weil er, wie ein Roman, sich immer nur mit einer Person beschäftigen kann, um die die Phantasie jeweils die andern gruppieren muß: deswegen hat diese eine Person die Bewegungsmöglichkeit, die Wichtigkeit eines Bühnenstars. Das 'Ensemble' ist im Kintop unmöglich, weil sein Bild sofort flach wirkt, wenn auch nur eine Person nach vorn tritt; es hat keinen Hintergrund, die andern verziehen sich wie Fresken über die Rückwand. Das liegt zum größern Teil noch an tatsächlichen Unzulänglichkeiten als an Prinzipien. Die eine Hauptperson aber prägt sich viel nachhaltiger und schärfer ein als auf dem Theater. Dort sind wir geistig, künstlerisch, gemütlich in Anspruch genommen. Hier sehen wir nur (ich sage: wir) und sehen vor allem die Person nur in besonders ausdrucksvollen Momenten, weil ja jede Nuance, die gezeigt wird, Extrakt aus tausend sich folgenden Nuancen ist, weil von Höhepunkt zu Höhepunkt geschritten wird. Ein guter Kinospieler gibt natürlich auch in diesen kurzen, scheinbar auf einen Ton gestimmten Ausschnitten eine Entwicklung, aber er muß sich eilen, er darf nicht lange vorbereiten, knapp und sicher, wahr und überzeugend muß seine Darbietung sein. Der Schauspieler kann mit einer ausgedehnten Pantomime das Wort vorbereiten, wenn er dessen Wirkung sicher ist; der Kinospieler kann Pantomime nur mit Pantomime steigern, muß sich also eilen, weil er nur die Steigerung des einen Mittels, nicht auch noch des andern in Reserve hat.



Quelle: Ulrich Rauscher, „Das Kinotop-Epos“, Die Schaubühne 9 (1913), S. 107-09.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 201-02.

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