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Die „Feudalisierung des Bürgertums”? Teil II: Heinrich Mann, Der Untertan (1918)

Vor dem Hintergrund des Wilhelminischen Kaiserreiches beschreibt Heinrich Mann (1871-1950) in seiner Erzählung Der Untertan das Leben des gewöhnlichen und etwas glücklosen Deutschen Diederich Hessling, der aristokratische Verhaltensweisen nachäfft und blind autoritätsgläubig ist. Detailreich schildert der Autor Diederichs Begegnung mit den Berliner Verhältnissen am Ausgang des 19. Jahrhunderts und porträtiert dabei Menschen aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten, samt ihren zugehörigen sozialen Merkmalen – das Spektrum reicht vom elenden und farblosen Arbeitslosen und Arbeiter bis hin zu Kaiser Wilhelm II. selbst. Mann hatte seiner Erzählung ursprünglich den Untertitel Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II. gegeben.

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KAPITEL I

[ . . . ]

Während Diederich noch erschüttert schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte:

„Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen.”

Er bemerkte Diederichs Enttäuschung und setzte hinzu: „Natürlich rede ich mit solch einem Manne anders. Aber jeder von uns muß an seinem Teil der Sozialdemokratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlichen Kaisers hinüberziehen. Tun auch Sie das Ihre!”

Damit war Diederich entlassen. Er hörte den Barbier noch sagen:

„Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinübergeht, bloß weil Liebling jetzt Marmor hat.”

Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete:

„Das ist alles schön und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch Stöcker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrungen gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristlich. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heißt es bloß noch: losschlagen, solange wir die Macht haben.”

Und Diederich stimmte erleichtert bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen.

„Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt.” Wiebels Augen drohten katerhaft. „Nun, was wollen Sie mehr? Das Militär ist darüber instruiert, es könne vorkommen, daß es auf die lieben Verwandten schießen muß. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.”

Da Diederich erregte Neugier zeigte:

„Was ich durch meinen Vetter von Klappke –”

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