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Hygiene auf dem Land (1902)

Dieser Bericht über die unzureichenden hygienischen Bedingungen in ländlichen Regionen verdeutlicht die Rolle von Staat, Industrie und gesellschaftlichen Gruppierungen bei der „Erziehung“ der Arbeiter zu mehr Sauberkeit, um Krankheiten besser bekämpfen zu können. Die Städte trugen erheblich zur Verbesserung der hygienischen Umstände bei, indem sie öffentliche Wasch- und Badeanstalten zur Verfügung stellten, so dass sich im Alltag der Deutschen neue, bessere Lebensgewohnheiten durchsetzen konnten.

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Dem Milieu entsprechend nimmt es nicht Wunder, wenn der Sinn für Reinlichkeit bei den Dorfbewohnern im allgemeinen noch weniger entwikkelt ist, als bei der städtischen Bevölkerung. Wie das Volk denkt und fühlt, zeigen die Sprichwörter in ihrer charakteristischen Kernigkeit. „Reinlichkeit is de Hauptsack, säd det ol Wief, da tog se Wihnachten en anner Hemd an“ – so lässt Allmers in seinem Marschenbuch die Frau der Marschen ihr hygienisches Glaubensbekenntnis zusammenfassen, oder wie es in etwas anderer Fassung in einigen Gegenden Norddeutschlands heisst: „Reinlichkeit is't halwe Lewen; Pingsten dreigen wi dat Hemd üm, dat wi Ostern antreckt hebben.“ Aber wohl nur noch ausnahmsweise stehen die Landbewohner auf dem Standpunkte des Rekruten bei Sonderegger,* der da meinte: „Es muss einer schon ein sehr schmutziger Mensch sein, wenn er nötig hat, sich jeden Tag zu waschen.“ Auch nach dieser Richtung machen sich örtliche, durch Volkssitten, wirtschaftliche Verhältnisse und Lebenshaltung bedingte Unterschiede bemerklich; so scheint der Reinlichkeitssinn im Süden und Westen auf dem Lande im allgemeinen etwas entwickelter zu sein als bei der ländlichen Bevölkerung im Norden und namentlich im Osten Deutschlands, wo vielfach auch bei den gewöhnlichen Waschungen eine gewisse Wasserscheu sich bemerklich macht und vorhandene See- und Flußbäder nur wenig benutzt werden. Vielleicht ist es die Seltenheit des Badens, die dazu geführt hat, daß man der Hebamme im Südhannoverschen die Bezeichnung „Bademutter“ oder „Bademuhme“ gegeben hat, weil das Baden oder Gebadetwerden ein besonders seltenes Ereignis darstellt, und sehr viele Landbewohner im späteren Leben des Genusses eines Vollbades überhaupt nicht mehr teilhaftig werden, wenn sie nicht zufällig einmal ins Wasser fallen. Von den 6500 Zopfträgern, die neuerdings in Preußen gezählt wurden, ich meine Träger des Weichselzopfes, der lediglich die Folge von Unsauberkeit und mangelnder Haarpflege ist, entfällt der größte Teil auf die östlichen Provinzen. In dem Generalbericht über die Sanitätsverwaltung im Königreich Bayern für das Jahr 1900 wird die Zunahme der Hautkrankheiten auf dem Lande, speziell der Furunkulose und Krätze, auf diese mangelhafte Hautpflege zurückgeführt. Dank der Werbekraft der Bestrebungen der Deutschen Gesellschaft für Volksbäder und dank dem Vorgehen einsichtiger Kommunen ist das Badebedürfnis in neuerer Zeit in den Städten wieder mehr zur Entfaltung gekommen, so daß in den Neubauten auch mittlerer Wohnungen heute schon vielfach Badeeinrichtungen vorgesehen werden. Im Gegensatz zu den Städten fehlt es auf dem Lande fast durchweg an jeder Gelegenheit zur Pflege des Reinlichkeitssinnes. Ausnahmsweise treffen wir in den Industriebezirken neben den eigentlichen Fabrikbädern auch öffentliche Badeanstalten. Wo eine Badegelegenheit auf dem Lande vorhanden ist, bleibt sie in der Regel auf öffentliche Fluß- und Seebäder beschränkt, die in primitivster Weise der allgemeinen Benutzung dienstbar gemacht werden.

*L[aurentius] Sonderegger, Vorposten der Gesundheitspflege, 4. Auflage. Berlin 1892.


Quelle: E. Roth, “Die Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land in gesundheitlicher Beziehung und die Sanierung des Landes“. Vortrag auf der 27. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege am 18.9.1902, in Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig, 35, 1903, p. 102f.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 241-42.

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