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Verkehrsmittel in Berlin (1905)

Die Industrialisierung hatte mehrere Urbanisierungsschübe ausgelöst. Die Städte füllten sich mit immer mehr Menschen, die durch zunehmend umfangreichere Verkehrsnetze, dichtere Infrastruktur und größere Verwaltungseinrichtungen versorgt werden mussten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mehr oder weniger der gesellschaftliche Status der Einwohner die Aufteilung des städtischen Raumes bestimmt. Die wohlhabendere Bevölkerung und die ärmeren Schichten hatten jeweils in eigenen, voneinander abgegrenzten Bezirken gelebt. Die Einführung der Massentransportmittel veränderte dieses traditionelle städtische Ordnungsmuster und die Wohnstruktur wandelte sich. Dennoch blieben gewisse, auf den wirtschaftlich-finanziellen Ungleichheiten zwischen den gesellschaftlichen Schichten beruhende Differenzen bestehen. Berlin als politisches und wirtschaftliches Zentrum bildete einen zentralen Anziehungspunkt für alle Mitglieder der wilhelminischen Gesellschaft.

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Straßenbahn fährt in Berlin alles. Weder Steuerstufen, noch soziale Vorurteile, noch auch der zeitweise aufflackernde Zorn des Bürgertums gegen die mit ihm verfeindete Aktiengesellschaft können jemanden bewegen, auf sie zu verzichten, und nur nach der Art der Stadtviertel und teilweise nach Tageszeiten läßt sich eine Einschränkung auf gewisse Bevölkerungskreise machen, die gewisse Wagen benützen. Nichts ist dafür lehrreicher als eine Stunde, die man ausdauernd auf einer der zahlreichen Linien vom äußersten Osten zum äußersten Westen Groß-Berlins verbringt. Der lange schmale Glaswaggon mit den zwei teppichgedeckten Sitzbänken wechselt auf solcher Fahrt mit unfehlbarer Gleichmäßigkeit die Art seiner Gesellschaft. Arbeiter, einfache Frauen, auf dem Schoß manchmal ein Kind mit rotem Wollmützchen: das ist die östliche Schicht. Knaben und Mädchen fehlen darin. Der modisch gekleidete Fahrgast, der aufsteigt, wird angesehen. Der Schaffner nimmt den „Sechser“, den man ihm (in Berlin immer nur ausnahmsweise) als Trinkgeld gibt, hier doppelt überrascht an. Westwärts ändert sich das Bild. Im Stadtinnern steigen Kaufleute, Damen, die von Einkäufen kommen, Boten größerer Geschäfte auf, und im richtigen Berlin W., im „neuen Westen“, ist solch ein Waggon oft mit einemmal gar hochherrschaftliches Vorderhaus. Damen, Babies mit ihren Bonnen,* Schulkinder in kostspielig einfachen Kleidern, die sich im Mittelgang aufstellen und ihre Monatskarten vorzeigen, sind die herrschende Mehrheit; aber es gibt auch auf diesen Linien noch Nuancen nach Straßenvierteln. Die Wilmersdorfer und Schöneberger sind Mittelstand, die Charlottenburger reich, die Grunewalder Millionäre. Auch diese haben ihre Straßenbahn (sie trägt die führende Marke A), und nicht selten, zumal an sonnigen Wintervormittagen, ist das Bild: ein durch Heizkörper unter der einen Bank wohlig durchwärmtes Wageninnere, eine starke Welle von Patchouli**, ein paar lachende und konversierende Gruppen der elegantesten Frauen. [ . . . ] Man fährt mit dieser Bahn bis zum Potsdamer Platz und besteigt dort die Droschke.

Einen ähnlichen Anblick bieten in ihren westlichen Hälften die Hoch- und Untergrundbahn und auch die Stadtbahn; durch die Zwei-Klassen-Teilung ist das fast sogar verbürgt. In der teurern Klasse haben die breiten und behäbigen Abteile der Stadtbahn mit ihren kleinen, zierlichen, verbindenden Durchgängen an der Seite etwas vom gemütlichen Herrenzimmer mit Polstergarnitur, aber der Gemütlichkeit wird man nicht recht froh, wenn in den Mittags- und Abendstunden die Coupés regelmäßig überfüllt sind und die stehenden Fahrgäste mehr auf den Füßen der Sitzenden als ihren eigenen stehen. An großstädtischem Eindruck gibt in Berlin die Stadtbahn, so etwa wenn man um Mitternacht unter dem hell erleuchteten mächtigen Tonnengewölbe des Bahnhofs Friedrichstraße steht und schließlich in einen mit lauter verspäteten Nachtbummlern vollbesetzten Zug einsteigt, zweifellos das stärkste. Die Untergrundbahn ist daneben unansehnlich. Ihre Wagen sind schlank und niedrig und nicht in Coupés, sondern salonartig eingeteilt, aber in ihrer Innenarchitektur, und zwar in beiden Klassen, sehr modern und sehr schmuck. Man sieht in ihr immer viele Offiziere, weil sie in ihrer geschickten Kurvenlinie, in der sie dahinflitzt, auch die billigeren Viertel des Westens berührt, und vor allem viele Frauen. Die scheinen herausgefunden zu haben, daß die moderne Innenausstattung gut kleidet, und wie man in anderen Großstädten für den Korso*** Toilette macht, so macht man's hier, in der Stadt der Bescheidenheit und der Elektrizität, für die Untergrundbahn.

Mit ihr verglichen ist die Berliner Droschke ein einfaches, nichtssagendes, farbloses Ding, das auf Eleganz – wenn man in ihr auch fünf- bis zehnmal so viel wie für die Bahnfahrt bezahlt – keinen Anspruch macht. Aber an Bequemlichkeit und schließlich auch an Geschwindigkeit ist sie doch besser als ihr Ruf, und die Liebe aller korrekten Menschen zum Taxameter hat ihr ja eine neue Mode verschafft. Neben den vertrauenerweckenden weißen sind die schwarzen Lackhüte der „ersten Güte“ in Ungnade gefallen und seit kurzem sogar laut polizeilicher Verordnung verschwunden. Der Taxameter herrscht nun so gut wie autokratisch. Durch ihn ist die Willkür in der Preisbestimmung ausgeschlossen, und nur im Gepäckstaxameter, den man bei Fahrten von und zu dem Bahnhof zu benutzen pflegt, ebenso wie nach Mitternacht (Nachttaxe) kann man auch bei der gerühmten Berliner Droschkenbilligkeit seine Überraschungen erleben.


* Kindermädchen
** Ein intensives Parfüm
*** Stadtbummel



Quelle: Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. Sitten. Winke. [Unbekannter Verfasser] Karlsruhe: Bielefelds Verlag, 1905, S. 466-71.

Abgedruckt (mit Fußnoten) in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 43-45.

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