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Ludwig Erhard, Wohlstand für alle (1957)

Der populäre Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard gilt als „Vater des Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik. Sein Konzept einer „sozialen Marktwirtschaft“ als dritter Weg zwischen einem liberalistischen Kapitalismus und einer sozialistischen Planwirtschaft wird durch die wirtschaftlichen Erfolge in Westdeutschland bestätigt. Erhard setzt auf Wirtschaftswachstum durch Privatinitiative und staatlich kontrollierten Wettbewerb anstatt Verteilungskämpfen um das Vorhandene, um „Wohlstand für alle“ zu erreichen.

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Die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wettbewerbs droht sozusagen ständig und von den verschiedensten Seiten her. Es ist darum eine der wichtigsten Aufgaben des auf einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung beruhenden Staates, die Erhaltung des freien Wettbewerbs sicherzustellen. Es bedeutet wirklich keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß ein auf Verbot gegründetes Kartellgesetz als das unentbehrliche wirtschaftliche Grundgesetz zu gelten hat. Versagt der Staat auf diesem Felde, dann ist es auch bald um die Soziale Marktwirtschaft geschehen. Dieses hier verkündete Prinzip zwingt dazu, keinem Staatsbürger die Macht einzuräumen, die individuelle Freiheit unterdrücken oder sie namens einer falsch verstandenen Freiheit einschränken zu dürfen. Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.

Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits den fundamentalen Unterschied zwischen der sozialen Marktwirtschaft und der liberalistischen Wirtschaft alter Prägung. Unternehmer, die unter Hinweis auf neuzeitliche wirtschaftliche Entwicklungstendenzen Kartelle fordern zu können glauben, stellen sich mit jenen Sozialdemokraten auf eine geistige Ebene, die aus der Automation auf die Notwendigkeit einer staatlichen Planwirtschaft schließen.

Diese Überlegung macht wohl auch deutlich, wie ungleich nützlicher es mir erscheint, die Wohlstandsmehrung durch die Expansion zu vollziehen als Wohlstand aus einem unfruchtbaren Streit über eine andere Verteilung des Sozialproduktes erhoffen zu wollen. [ . . . ]

Der Erfolg hat mir recht gegeben. Die deutsche Wirtschaftspolitik hat dahin geführt, daß der Ertrag, den alle aus der Wirtschaft ziehen, ohne jede Unterbrechung von Jahr zu Jahr angestiegen ist. Der private Verbrauch z. B. erhöhte sich von 1950 bis 1955 – wohlgemerkt wieder in Preisen von 1936 ausgedrückt – von 29 auf 51 Mrd. DM. Diese beachtliche Steigerung steht im internationalen Vergleich mit an erster Stelle. Nach Ermittlungen der OEEC stieg der Index des privaten Verbrauchs – preisbereinigt – je Kopf der Bevölkerung (1952 = 100) in Westdeutschland von 77 im Jahre 1949 auf 126 im Jahre 1955; in diesem Zeitraum erhöhte sich die Indexzahl in den USA von 96 auf 107, in Großbritannien von 100 auf 110; in Schweden von 96 auf 110; in Frankreich von 88 auf 113. Auch wenn man die Vorkriegszeit als Basis wählt, übersteigt die westdeutsche Entwicklung diejenige des Durchschnitts aller OEEC-Länder bei weitem. Selbst die revolutionärste Umgestaltung unserer Gesellschaftsordnung hätte es niemals vermocht, den privaten Verbrauch dieser oder jener Gruppe auch nur um Bruchteile der tatsächlich erreichten Steigerung zu erhöhen; denn gerade ein solcher Versuch hätte zu einer Lähmung und Stagnation der Volkswirtschaft geführt.

Diese Skepsis gegenüber allen Streitigkeiten über die »gerechte« Verteilung des Sozialprodukts erwächst auch aus der Überzeugung, daß so begründete Lohnkämpfe in enger geistiger Nachbarschaft zu vielfältigen Bemühungen auch anderer Interessenten, ja ganzer Volksteile stehen, sich auf Kosten anderer Vorteile verschaffen zu wollen. Dabei wird in leichtfertiger Weise verkannt, daß jedes geforderte Mehr immer eine größere Leistung voraussetzt. Ein derartiges geradezu kindisch zu nennendes Verhalten gefährdet in illusionistischer Verblendung zuletzt sogar die Grundlagen unseres Fortschritts. Auch hier ist vor allem die Bejahung des Wettbewerbs geeignet, dem Egoismus einen Riegel vorzuschieben. So wie es in einer gesunden Wettbewerbswirtschaft dem einzelnen nicht erlaubt ist, Sondervorteile für sich zu beanspruchen, so ist diese Art der Bereicherung auch ganzen Gruppen zu versagen.

Mein ständiges Drängen, alle Anstrengungen auf eine Expansion ohne Gefährdung der gesunden Grundlage unserer Wirtschaft und Währung zu richten, gründet sich gerade auf die Überzeugung, daß es mir auf solche Weise möglich sein kann, all denen, die ohne eigenes Verschulden wegen Alter, Krankheit oder als Opfer zweier Weltkriege nicht mehr unmittelbar am Produktionsprozeß teilhaben können, einen angemessenen, würdigen Lebensstandard zu garantieren.

Das Anwachsen der Sozialleistungen in den letzten Jahren erweist die Richtigkeit dieser These. Die Steigerung der öffentlichen Sozialleistungen in der Bundesrepublik von 9,6 Mrd. DM im Jahre 1949 auf fast 21 Mrd. DM im Jahre 1955 war, wie auch die neue Rentenreform, nur über den wirtschaftlichen Fortschritt zu bewerkstelligen. Nur die Expansion hat es ermöglicht, auch die Armen mehr und mehr an der Wohlstandssteigerung teilhaben zu lassen. Wenn, wie gesagt, die Bundesregierung jetzt sogar eine weitere und wesentliche Erhöhung der Sozialleistungen gewähren kann, dann ist sie dazu nur deshalb in der Lage, weil die Wirtschaftspolitik auch für die Zukunft eine Steigerung unseres Sozialproduktes erwarten läßt. [ . . . ]



Quelle: Ludwig Erhard, Wohlstand für alle. Düsseldorf: Econ-Verlag, 1957, S. 9-12.

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