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Hans Harmsen, „Gegenwartsfragen der Eugenik” (1931)

Hans Harmsen (1899-1989), ein für seine Befürwortung der Eugenik bekannter Arzt, ging der Frage des Gemeinwohls aus der Perspektive der Rassenhygiene nach. Diese Rede von 1931 war die Eröffnungsrede einer Fachkonferenz für Leiter von gemeinnützigen Einrichtungen. Auch wenn er Euthanasie nicht stillschweigend billigte, befürwortete er „die Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenetischer Indikation“ als eine Maßnahme der Sozialpolitik.

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1. Eugenik und Wohlfahrtspflege

Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, daß erbbiologische Gesundheit nicht mit „Hochwertigkeit“ identisch ist. Die Erfahrung aller Zeiten lehrt vielmehr, daß auch körperlich und geistig Gebrechliche ethisch und sozial hochwertige Menschen sein können. Die Strukturwandlungen unseres Bevölkerungsaufbaues und die quantitative wie qualitative Änderung der Bevölkerungsvermehrung, die vor allem in der Schrumpfung der durchschnittlichen Familiengröße bei den Gruppen der erbbiologisch und sozial Tüchtigen und Leistungsfähigen zum Ausbruch kommt, lassen eugenetische Neuorientierung unserer öffentlichen und freien Wohlfahrt dringend erforderlich erscheinen. An die Stelle einer unterschiedslosen Wohlfahrtspflege hat eine differenzierte Fürsorge zu treten. Erhebliche Aufwendungen sollen nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtpflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. Träger erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind, sollten tunlichst von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden.

2. Vernichtung lebensunwerten Lebens

Die Konferenz ist einmütig der Auffassung, daß die neuerdings erhobene Forderung auf Freigabe der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens mit allem Nachdruck sowohl vom religiösen als auch vom volkserzieherischen Standpunkt abzulehnen ist.

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3. Die Unfruchtbarmachung erblich Schwerbelasteter

Die Ergebnisse der Familienforschung, insbesondere die Beobachtung an eineiigen Zwillingen, lassen keinen Zweifel an der hohen Bedeutung der Erbfaktoren für die gesamte Lebensentwicklung. Ungeklärt ist heute noch für viele Fälle die Bedeutung der Umweltseinflüsse, so auch die Frage der Schädigungen von Ei-und Samenzelle vor ihrer Vereinigung und das Problem der Regenerationsfähigkeit. Auch kann wohl keine Kultur das geistig Wertvolle im biologisch Unwerten missen. Die negativen eugenetischen Maßnahmen, die auf Ausmerzung aller erblichen Belastungen zielen, bedürfen deshalb in ihrer Anwendung sorgsamer Überprüfung und Abgrenzung.

In unseren Anstalten für geistig Gebrechliche, die eingehendere Beobachtungen über das Ausmaß der erblichen Belastung ihrer Pfleglinge gemacht haben, zeigt sich der erschütternd große Anteil des Erbfaktors als Ursache der Gebrechen. Er beträgt bis zu 60 Prozent. Soweit es sich bei diesen Fällen um Dauerunterbringung handelt, erfüllen unsere Anstalten für die Gesamtheit des Volkes in der Asylierung zugleich eine hohe eugenetische Aufgabe. Unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise hat aber der Begriff der Pflegebedürftigkeit eine erhebliche Einschränkung erfahren. Heute ist häufig nicht mehr die Schwere eines Falles entscheidend, sondern ausschließlich die Kostenfrage. Das Unterbleiben der Einweisung erblich schwer belasteter Personen ist ebenso bedenklich wie die immer häufiger werdenden Forderungen auf Entlassung Bewahrungsbedürftiger. Die Konferenz weist mit Nachdruck auf die schweren Gefahren derartiger Maßnahmen hin, die ebenso wie die zeitweise Beurlaubung erblich-sittlich Gefährdeter sich für die Zukunft verhängnisvoll auswirken muß. Die Möglichkeit der Asylierung ist in Übereinstimmung mit den Forderungen der Eugenik verstärkt in Anspruch zu nehmen und durch Verabschiedung des Verwahrungsgesetzes zu ergänzen.

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4. Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenetischer Indikation

Die Berechtigung zur ärztlichen Schwangerschaftsunterbrechung besteht heute nur bei Vorliegen einer medizinischen Indikation. Weite Kreise fordern die Erweiterung dieser Berechtigung für die sogenannte soziale und für die eugenetische Indikation. Im letzten Fall soll die Straffreiheit der Schwangerschaftsunterbrechung gegeben sein, wenn mit ausreichender Wahrscheinlichkeit die Entstehung eines erblich belasteten Kindes zu erwarten ist. In der Arbeit für die geistig Gebrechlichen ist diese Frage auch im Rahmen unserer Anstalten von nicht geringer Bedeutung.

Die Konferenz ist grundsätzlich der Auffassung, daß ein deutlicher Unterschied zwischen der Verhütung der Entstehung erbkranken Lebens und der Vernichtung entstandenen Lebens ist. Sie lehnt eine Ausdehnung der eugenetischen Indikation für die Schwangerschaftsunterbrechung ab. Die Achtung vor dem Leben verpflichtet uns, auch solche Not als Teil einer Gesamtschuld zu tragen. Sollte ärztlicherseits in Verbindung mit anderen Gesichtspunkten die Unterbrechung angezeigt erscheinen, so empfiehlt die Konferenz die schriftliche Festlegung des Beschlusses auf Grund eines Konsiliums unter Zuziehung eines Amtsarztes oder Universitätslehrers.



Quelle: Hans Harmsen, „Gegenwartsfragen der Eugenik“ (1931), in Anneliese Hochmuth, Spurensuche: Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, herausgegeben von Matthias Benad in Verbindung mit Wolf Kätzner und Eberhad Warns. Bielefeld: Bethel-Verlag, 1997, S. 227-30.

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