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Max Born über die Physik in Göttingen in den 1920er und frühen 1930er Jahren (Rückblick 1975)

Im folgenden Abschnitt erinnert sich der Physiker und Nobelpreisträger Max Born (1887-1970) an seine Tätigkeit an der Universität Göttingen in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Born war entscheidend an der Entwicklung der Quantenmechanik beteiligt. Zeit seines Lebens war er mit Albert Einstein befreundet und arbeitete mit vielen der größten Physiker des 20. Jahrhunderts zusammen. 1926 formulierte er die Born’sche Regel (oder Born’sches Gesetz), einen fundamentalen Beitrag zur theoretischen Physik, der schon zu dieser Zeit große Anerkennung fand. Doch erst 1954 erhielt er dafür den Nobelpreis. Er lehrte vor allem an der Universität Göttingen. 1933 wurde ihm jedoch sein dortiger Lehrstuhl entzogen, und er wurde gezwungen, Deutschland zu verlassen. 1936 wurde er Professor für theoretische Physik an der Universität Edinburgh, an der er bis zu seiner Emeritierung lehrte.

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Meine Abteilung bestand aus einem kleinen Raum im Physikalischen Institut und mein Stab aus einem Assistenten und einer Halbtagssekretärin. Es gab keine Werkstatt und keinen Mechaniker wie in Frankfurt, da ich die experimentelle Abteilung Franck anvertraut hatte. Trotzdem versuchte ich meine experimentellen Forschungen fortzusetzen, an denen ich einen Studenten unter meiner Anleitung arbeiten ließ. Doch das ging nicht gut. Franck und Pohl waren hinsichtlich meiner experimentellen Fähigkeiten skeptisch und zeigten dies auf recht entmutigende Weise. Pohl war von der Angst vor einer Quecksilbervergiftung besessen und traf in seiner Abteilung große Schutzmaßnahmen dagegen, daß dieses Metall in den Räumen verschüttet wurde. Nun lag der Raum meines Studenten direkt über Pohls privaten Studierzimmer, und eines Tages tropfte Quecksilber von der Decke herab. Ein großes Gefäß einer Vakuumpumpe, das Quecksilber enthielt, war zerbrochen und hatte seinen Inhalt auf den Fußboden entleert. Pohl war außer sich vor Wut und Angst; er ließ den Fußboden des vergifteten Raums entfernen und machte meinem Studenten das Leben so unangenehm wie möglich. Ich beschloß, die experimentelle Forschung aufzugeben und mich auf meine theoretische Arbeit zu beschränken, immer bereit, Franck, Pohl und ihre Mitarbeiter zu beraten, wenn sie mich darum baten.

Ich organisierte einen dreijährigen Kurs in theoretischer Physik, der entsprechend den sechs Semestern aus sechs Vorlesungsfolgen bestand. Bei den Studenten, die diese Vorlesungsreihe besuchten, wurden Kenntnisse der Differentialrechnung und analytischen Geometrie vorausgesetzt. Deshalb begannen die meisten von ihnen unseren Kurs in ihrem zweiten Jahr, nachdem sie ein Jahr Mathematik gehört hatten, aber selbstverständlich fragten wir sie nicht danach und kümmerten uns nicht darum, wo sie es gelernt hatten. Es bestand an deutschen Universitäten, wie ich schon erwähnte, volle Freiheit des Lehren und Lernens. Weder gab es Prüfungen noch sonst eine Kontrolle der Studenten. Die Universität bot lediglich Vorlesungen an, und der Student mußte selbst entscheiden, welche er besuchen wollte und ob er in der Lage war, ihr zu folgen. Unsere sechs Kurse waren: 1. Mechanik von Teilchen und starren Körpern, 2. Mechanik der Kontinua, 3. Thermodynamik, 4. Elektrizität und Magnetismus, 5. Optik, 6. Elemente der statistischen Mechanik, atomare Strukturen und Quantentheorie. Jeder der Kurse bestand aus vier Vorlesungen pro Woche und einer Übung. Zusätzlich zur Hauptvorlesung hielt ich gewöhnlich eine spezielle Vorlesung mit zwei Wochenstunden über Probleme der modernen Physik. Später, als meine Assistent Privatdozent wurde, hielten wir den Kurs doppelt ab, wobei der eine gegen den anderen um drei Semester verschoben war, und in der letzten Zeit, als ich zwei Privatdozenten als Assistenten hatte, gaben wir sogar einen dritten Kurs.

Alle drei Abteilungen des physikalischen Instituts, Francks, Pohls und meine, hielten gemeinsam ein Kolloquium, was eine große und aufregende Sache war. Die Vertreter vieler angrenzender Fachgebiete nahmen daran teil, z.B. Reich (angewandte Elektrizität), Prandtl (angewandte Mechanik), Tamman (physikalische Chemie), Wichert und später sein Nachfolger Angenheister (Geophysik), Hartmann, später Kienle (Astronomie) etc., und oft kamen auch die Mathematiker. Zahlreiche wichtige Ergebnisse wurden zuerst auf diesen informellen Zusammenkünften angekündigt. Franck, Pohl und ich bereiteten abwechselnd ein Thema vor und übernahmen den Vorsitz. Es war üblich, den Vortragenden zu unterbrechen und ihn erbarmungslos zu kritisieren. Wir hatten die lebhaftesten und unterhaltsamsten Diskussionen und ermutigten sogar die jungen Studenten daran teilzunehmen, indem wir die Regel aufstellten, daß dumme Fragen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht waren. Es gab ständig kleine Gefechte zwischen den Experimentalisten aus Pohls Schule und meinen Theoretikern, während Franck eine Position dazwischen einnahm. Obwohl er Mathematiker war, bestand seine Arbeit aus einer gesunden Mischung von Theorie und Experiment. Er besaß die unwahrscheinliche Gabe, abstrakte Gedanken mit relativ einfachen Mitteln in praktische Demonstrationen umzusetzen.




Quelle: Max Born, Mein Leben. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1975, S. 288-89.
Mit freundlicher Genehmigung © 1975 Nymphenburger Verlagshandlung in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

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