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Thomas Mann, „Kultur und Sozialismus” (1927)

Thomas Mann (1875-1955), zu Ende des Ersten Weltkrieges bereits eine bekannte Persönlichkeit in Deutschland, gehörte weder zu den unmittelbaren Unterstützern der Weimarer Republik noch zu den ausgesprochenen Gegnern der Konservativen. Seine Zwiespältigkeit hinsichtlich der Massengesellschaft entsprang der Spannung zwischen seinem ästhetischen Empfinden und seinen politischen Idealen – eine Spannung, mit der sich dieser Essay auseinandersetzt. 1918 veröffentlichte er die Betrachtungen eines Unpolitischen, welche eine Debatte auslösten, auf die dieser Essay antwortet. Im August 1927 druckten die Münchner Neuesten Nachrichten einen Artikel von Arthur Hübscher mit der Überschrift „Metamorphose: Die ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘ einst und jetzt“. Es folgte eine Korrespondenz zwischen Hübscher und Mann durch das Jahr 1928 hindurch, über die in der deutschen Presse ausführlich berichtet wurde. „Kultur und Sozialismus“ dokumentiert Manns politische Entwicklung, in deren Verlauf er widerwillig anerkennt, dass die Sozialisten und die Arbeiterklasse nun in der Praxis die deutschen intellektuellen Ideale stärker verkörpern als die konservativen Traditionalisten.

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Der Krieg ging verloren. Was aber das deutsche Gemüt am tiefsten zerrüttete und quälte, war nicht die physische Niederlage, der Ruin, der ungeheure Sturz in staatliches Elend von der Höhe äußerer Macht. Es war eine schrecklichere Beirrung: das Zuschandenwerden seines Glaubens, das ideelle Besiegtsein, der Zusammenbruch seiner Ideologie, die Katastrophe des Kraftzentrums dieser Ideologie, seiner Kulturidee, welche in diesem Kriege mit überwältigt worden war – von der ideellen Gegenwelt, der Welt der demokratischen Zivilisation. Viel zu ernsthaft hatte Deutschland den Krieg auch dialektisch, auch im Ideellen geführt, als daß es ihm nicht entsetzlich ernst hätte sein müssen mit der Auffassung, daß es auch ideell geschlagen sei; und wenn es verzweifelte Versuche machte, die Niederlage zu leugnen und sich selbst beteuerte, es sei „im Felde unbesiegt“, so geschah es, wenn ich recht empfinde, namentlich aus ideologischen Gründen: um zugleich die geistige, ideelle, sozusagen philosophische Niederlage leugnen zu können. Die Gegensätze, die heute Deutschland zerreißen, führen mancherlei Namen und kleiden sich in mancherlei Gestalt. Im Grunde und in der Tiefe sind sie nur einer: der Gegensatz von Trotz und Willensneigung zu versöhnlichem Zugeständnis; die mit bleicher Erbitterung umkämpfte Streitfrage, ob Deutschland auf seinem überlieferten Kulturbegriff beharren oder eine korrigierende, ihn ins Neue hinüberwandelnde Hand daran legen soll. Wir sind zu sehr ein geistiges Volk, als daß wir im Widerstreit von Staatsform und Glauben zu leben vermöchten. Indem es die republikanische Staatsform einführte, war Deutschland nicht „demokratisiert“. Jeder deutsche Konservatismus, jeder Wille die deutsche überlieferte Kulturidee unangetastet zu lassen muß, in politischer Sphäre, die republikanisch-demokratische Staatsform als land- und volksfremd, als unwahr und seelisch wirklichkeitswidrig verwerfen und befehden. Das liegt in der Natur und inneren Konsequenz der Dinge, und ebenfalls liegt darin, daß zur demokratischen Staatsform stehen, an ihre Möglichkeit und Zukunft in Deutschland glauben nur kann, wer die Wandlung der deutschen Kulturidee in weltversöhnlich-demokratischer Richtung für möglich und wünschenswert hält.

Hier ist nun festzustellen, daß die wirklichen, höheren Schwierigkeiten, die sich der „Demokratisierung“ Deutschlands entgegenstellen, im Auslande kaum erkannt, und Versuche, dergleichen ins Werk zu setzen, nur unzureichend gewürdigt werden. Indem man sich über ihr Fehlschlagen wundert und sich dadurch im politischen Mißtrauen bestärken läßt, übersieht man, daß fast alle seelischen Vorbedingungen zu ihrem Gelingen fehlen. Die Bildner und Erzieher deutscher Menschlichkeit, die Luther, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, George waren keine Demokraten – o nein. Wenn man sie draußen ehrt, so überlege man sich, was man tut. Sie waren es, welche die Kulturidee mit großem K schufen, die das Kraftzentrum der deutschen Kriegsideologie bildete. Man applaudiert in Paris den „Meistersingern“. Das heißt die Zusammenhänge verkennen. Nietzsche schrieb über dies Werk: „– Gegen die Zivilisation. Das Deutsche gegen das Französische.“

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