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Kurt Weill über Bertolt Brecht (1927)

Kurt Weill (1900-1950) wuchs in einer bürgerlichen jüdischen Familie auf und erhielt eine erstklassige Ausbildung an der Berliner Hochschule für Musik sowie der Preußischen Akademie der Künste. Die Einflüsse, aus denen sich Weills Musik speiste, waren eklektisch, dazu zählten vor allem die Ausdrucksformen des amerikanischen Jazz und die Werke moderner Komponisten wie Arnold Schoenberg und Alban Berg. Seine Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller und Dramatiker Bertolt Brecht (1898-1956) prägte die neue Musik und Populärkultur nachhaltig. Die beiden Künstler waren sich 1927 begegnet, nachdem Weill seine Begeisterung für Brechts Hörspiel „Mann ist Mann“ ausgedrückt hatte. Ihre Zusammenarbeit dauerte bis 1930, als politische Differenzen zum Bruch führten. Ihre erste gemeinsame Arbeit im Auftrag des Festivals „Deutsche Kammermusik Baden-Baden“ wurde am 17. Juli 1927 uraufgeführt und war eine Sensation. Das Singspiel Mahagonny spielt in einer fiktiven amerikanischen Stadt voller Kleinkrimineller und korrupter Polizisten. Die Autoren erwarteten einen Skandal und wurden nicht enttäuscht: Brecht gab den Darstellen Trillerpfeifen, um sich gegen die Buhrufe des Publikums zu wehren. Schließlich arbeiteten Brecht und Weill das Singspiel zu einer Oper mit dem Titel Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) aus. Zwar wurde sie nie so beliebt wie ihr Meisterwerk Die Dreigroschenoper (1928), doch behandelte Mahoganny ähnliche Themen. Emil Hertzka (1869-1932), Direktor des Wiener Musikverlags Universal Edition, war derart begeistert von Lotte Lenyas Darstellung, dass er ihr einen Scheck für eine Urlaubsreise an die Ostsee schickte. Nach der gespaltenen Reaktion in Baden-Baden fürchtete Hertzka jedoch, dass eine abendfüllende Version des Singspiels zwar „musikalisch wirkungsvoll“, jedoch „in zahlreichen Städten schlicht unaufführbar“ wäre. Weills Antwort verfechtet dessen Zusammenarbeit mit Brecht, welche so beispielhaft für die Energie, den Stil und die demokratisierenden Impulse der Weimarer Kultur war.

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Was mich zu Brecht hinzieht, ist zunächst das starke Ineinandergehen meiner Musik mit seiner Dichtung, das in B.-B. [Baden-Baden] alle massgebenden Beurteiler überrascht hat. Dann aber glaube ich bestimmt, dass aus der intensiven Zusammenarbeit zweier gleichermassen produktiver Leute etwas grundlegend Neues entstehen kann. Es steht doch ausser Zweifel, dass gegenwärtig eine völlig neue Art von Bühnenkunstwerk entsteht, das sich an ein anderes u. ungleich grösseres Publikum wendet, u. dessen Wirkung in ganz ungewohnter Weise in die Breite gehen wird. Diese Bewegung, deren stärkster Faktor auf dem Gebiete des Schauspiels Brecht ist, hat bisher nirgends (ausser in Mahagonny) auf die Oper übergegriffen, obwohl die Musik eines ihrer wesentlichsten Elemente ist. In langen Unterredungen mit Brecht habe ich die Überzeugung gewonnen, dass seine Ansichten von einem Operntext mit den meinen weitgehend übereinstimmen. Das Stück, das wir schaffen werden, wird nicht Aktualitäten ausnützen, die nach einem Jahr veraltet sind, sondern es will unsere Zeit in einer endgültigen Form gestalten. Daher wird seine Auswirkung sich weit über seine Entstehungszeit hinaus erstrecken. Es gilt eben das neue Genre zu schaffen, das die völlig veränderten Lebensäusserungen unserer Zeit in einer entsprechenden Form behandelt. Dass von dieser Kunst trotz ihrer Neuartigkeit eine durchschlagende Wirkung ausgeht, haben Sie in Baden-Baden beobachten können.



Quelle: Nils Grosch, Kurt Weill. Briefwechsel mit der Universal Edition. Stuttgart: J.B. Metzler, 2002, N. 229, S. 78-79.

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