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George L. Mosse zur Liberalismus seines Vaters und dessen Unterschätzung der Nazis (Rückblick 2000)


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Wie vielen Liberalen seiner Generation, fiel es meinem Vater sehr schwer, die Nazis ernst zu nehmen. Oft hörte ich ihn sagen, Hitler gehöre nicht auf die Titelseite der Zeitung, sondern in den Ulk, die Satirebeilage. Aufschlussreicher und bezeichnender für jene schwerwiegende, seinerzeit aber sehr weit verbreitete Unterschätzung der Nazis, war eine Passage in einem Brief, den er im Februar 1933, nach zehn Amtstagen Hitlers als Reichskanzler, an meine Schwester schrieb. Er wies darauf hin, dass in diesen zehn Tagen die Auflagen »unserer Zeitungen« erheblich gestiegen waren. Wenn sie weiter nach oben gingen, würde der Einfluss dieser Zeitungen auf die öffentliche Meinung zunehmen. Aber selbst davon abgesehen, sei die Bewegung, die Hitler an die Macht gebracht habe, wegen der Unzufriedenheit der Massen, die keine Arbeit bekommen würden, zum Scheitern verurteilt. Und obwohl er selbst manchmal Zweifel daran hatte, hoffte er noch mehrere Wochen lang, das NS-Regime werde dem Berliner Tageblatt wieder das Recht einräumen, kritisch zu berichten, und es werde dann seine führende Stellung in der deutschen Presselandschaft zurückgewinnen.

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Im letzten Jahr vor der Machtergreifung Hitlers konnte man vor dem tödlichen Ernst der politischen Lage nicht mehr die Augen verschließen. Im April 1932 schrieb mein Vater an meine Schwester, wir lebten in der Tat in einer furchtbaren Zeit, und die Nazis könne man nicht mit den Mitteln der Vernunft und Logik allein bekämpfen. Diese Einsicht war aber wohl nur Ausdruck einer momentanen Verzweiflung und konnte seine der Aufklärung verpflichtete Weltsicht nicht erschüttern, an der er bis an sein Lebensende festhielt. Heute ist mir klar, dass die Haltung, die mein Vater im Angesicht des herannahenden Sturms einnahm, typisch für viele, vielleicht die meisten deutschen Juden seines Standes war. Sie gaben sich gemeinsam den Illusionen hin, die am besten geeignet waren, sie in ihrer Hoffnung zu bestärken, als wirklich vollwertige Mitglieder der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Schließlich hatten die Aufklärung und der mit ihr verbundene Rationalismus zur Emanzipation des Judentums geführt. Meine Schwester, die einer anderen Generation angehörte, offenbarte ihm mehr als einmal, dass und wie der nationalsozialistische Einfluss sich sogar in den Reihen der linksorientierten sozial tätigen Organisationen, für die sie arbeitete, bemerkbar machte. Ich besuchte schließlich mindestens eine Massenkundgebung der Nazis und erlebte die Begeisterung und die Dynamik der Zuhörermenge. In den Augen meines Vaters war die emotionale Aufgepeitschtheit der Menschen nichts als »Humbug«, genau wie alles Religiöse – etwas, das keine Substanz hatte, das nur Schall und Rauch war, wie er mir zu sagen pflegte. Hieraus erwuchsen politische Meinungsverschiedenheiten, die sich zu den anderen Spannungen und Problemen innerhalb der Familie gesellten.





Quelle der deutschen Übersetzung: George L. Mosse, Aus Grossem Hause: Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers. München: Ullstein Verlag, 2003, S. 66-69.

Quelle des englischen Originaltextes: George L. Mosse, Confronting History: A Memoir. Madison: University of Wisconsin Press, 2000, S. 41-42.

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