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Helene Stöcker, „Die Ehe als psychologisches Problem” (1929)

Die Pazifistin, Frauenrechtlerin und Sexualreformerin Helene Stöcker (1869-1943) war 1905 Mitbegründerin des „Bundes für Mutterschutz und Sexualreform“, der sich für die Verbesserung der rechtlichen und sozialen Stellung lediger Mütter und ihrer Kinder einsetzte. Dieser Artikel stammt aus der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Die Neue Generation, die seit 1908 unter diesem Namen erschien und zur Plattform der von Stöcker geforderten „neuen Ethik“ wurde, deren zentraler Bestandteil das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper war. Dementsprechend setzte sie sich neben dem Mutterschutz auch für Empfängnisverhütung sowie die Legalisierung der Abtreibung ein. In diesem Text setzt sie sich speziell mit der Institution der Ehe auseinander, deren gesellschaftliche und private Bedeutung im Zuge der veränderten Geschlechterverhältnisse in den 1920er Jahren zunehmend in Frage gestellt wurde.

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Die Ehe als psychologisches Problem


Wenn man die diesjährige Tagung für Sexualreform mit der Arbeit für Sexualreform vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren vergleicht, so darf man immerhin einige Fortschritte konstatieren. Als wir vor fünfundzwanzig Jahren in Deutschland die Bewegung für Mutterschutz und Sexualreform geschaffen hatten und 1911 den I. Internationalen Kongreß für Sexualreform in Dresden einberiefen, da mußten wir nach außen zwei Kongresse organisieren, einen für Sexualreform im engeren Sinne — während die Fragen der Geburtenregelung für sich abgesondert betrachtet werden mußten.

Heute ist es wenigstens allen klar geworden, daß diese Probleme innig zusammenhängen. Aber noch sind die meisten dieser Probleme ungelöst. Und es bedarf aller unserer Energie und geistigen Klarheit, all unseres Willens zur Höherentwicklung der menschlichen Kultur, um sie zur Lösung zu bringen.

II. Eine ungestörte Aufrechterhaltung der alten, aus der früheren absoluten Sexualherrschaft des Mannes stammenden Verhältnisse ist unter den so veränderten politischen, geistigen und wirtschaftlichen Bedingungen — die auch unser Wesen vielfach verwandelten — nicht zu erwarten. Gegen die besonderen Leiden und Konflikte dieser Umwandlungszeit sucht man nun in neuen Formen der Ehe einen Ausweg. Da kommt einer mit der „Probeehe“ — ein anderer mit der „Kameradschaftsehe“, wieder ein anderer mit der „Ehe zu Dritt“, ein vierter gar mit der „Ehe zu Vieren“, ein fünfter mit der „Jugendehe“, ein sechster mit der „Zeitehe“. Ein siebenter möchte die ganze Welt liebend an sein Herz drücken — z. B. der Deutschamerikaner Ruedebusch — er kommt zu der Idee einer erotischen Verbindung mit unbegrenzt Vielen — und jenseits aller dieser Reformvorschläge sehen wir die in sich sehr verschiedenen Gruppen, denen aus Überzeugung oder Wesensart jede Scheidung eine Zerstörung des wahren Eheideals bedeutet.

Ich wage die Ketzerei, in diesem Kreise zu fragen: Sind all die Vorschläge, die Formen der Ehe zu ändern oder bessere Scheidungsgesetze zu erkämpfen — so lehrreich oder nützlich sie sein mögen — sind sie nicht doch im letzten unwesentlich?

Wie ist der Mensch selbst beschaffen, der die Ehe führt? Das ist immer die Frage. Wie sucht er die Eheaufgabe an seinem Teil in der Welt zu lösen?

Denn welche Reformen und Änderungen man auch ersinnen mag: irgendwo kommt immer und in jedem Fall die Stelle, wo man um der oder des anderen willen dem eigenen Verlangen Halt gebieten muß. Und ist es da nicht besser, diese Rücksichtnahme geschieht, ehe wir unser Leben allen tieferen, ethischen Wertes, aller verantwortlichen Sittlichkeit entkleidet haben?

Keine „Reform“ der Ehe — welcher Art auch immer — wird je fühlende Herzen, liebende Menschen darüber trösten, auf den innigsten Kontakt, diese Welt für sich: die Einheit zu Zweien, mit dem geliebten Menschen verzichten zu müssen. Eine „Ehe zu dreien“ z. B. ist vielleicht als Ausnahmezustand unter Ausnahmemenschen für eine Weile als eine ethisch tragbare Erscheinung denkbar — Goethes „Stella“ wagt eine solche Darstellung — aber wenn Ehe zugleich Liebe, innigste seelisch-sinnliche Gemeinschaft sein soll — dann scheint mir auf diesem Weg einer „Reform“ für die Erhöhung menschlichen Wesens und die Vermehrung menschlicher Lebensfreude nicht allzuviel zu hoffen.

Wo man nach „Vielehe“ verlangt — wie bei der „Ehe zu Dritt“ z. B., oder der Ruedebusch-Idee einer sexuellen Allliebe — da sind wir wohl im Bereich eines wechselbedürftigen geschlechtlichen Verlangens — aber von Eros und Ehe in höherem Sinne weit entfernt.

Das Buch des Franzosen Georges Anquetil „Ehe zu Dritt“ beruht auf einer psychologisch kurzsichtigen, vorsintflutlichen Vorstellung. Es ist grotesk, daß man eben im Orient, im asiatischen Rußland, in der Türkei die Vielehe als „überlebt“ aufhebt. Und nun glauben „Westeuropäer“ von der anderen Seite sie wieder einführen zu können?! In was für verschiedenen Zeitaltern ethisch-psychologischer Kultur leben wir doch — wir Menschen im selben Lande zu gleicher Zeit!

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Die Entwicklung zu einem restlosen Verständnis zwischen Mann und Frau vollzieht sich auch deshalb nur so allmählich, weil die geistig produktive Teilnahme der Frau selbst an der Aufhellung der Geschlechtsprobleme erst so jungen Datums ist.

Glücklicherweise kann auch der Blindeste nicht leugnen, daß ein gewaltiger Wechsel der Macht- und Herrschaftsverhältnisse zur Zeit zwischen den Geschlechtern vor sich geht. Und wenn in Literatur und Wissenschaft viele Männer die Schranken des Geschlechtes in sich noch nicht überwinden können, die äußerlich — im politischen Leben wie im Alltag — zum Teil schon gefallen sind, so haben andere dafür auf Grund der wissenschaftlichen Forschung längst erkannt, daß in uns allen „Mann“ und „Weib“ nur gemischt existiert — daß es den „Mann“, das „Weib“ an sich — von dem sie theoretisieren — im Leben gar nicht gibt.

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