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Gabriele Tergit, „§ 218: Moderne Gretchentragödie” (1926)

In diesem Artikel vom November 1926 berichtet die Journalistin Gabriele Tergit (eigentlich Elise Hirschmann; 1894-1982), seit 1925 Gerichtsreporterin beim Berliner Tageblatt, über einen Gerichtsprozess wegen Verstoßes gegen den Abtreibungsparagrafen (§ 218). Tergit schrieb hauptsächlich über Prozesse gegen Menschen, die aus sozialer Notlage straffällig geworden waren und beschränkte sich in ihren Reportagen nicht auf die Schilderung des Gerichtsverfahrens, sondern kommentierte Recht und Rechtsprechung ebenso menschlich wie sozialkritisch. Auch gegen den von ihr als unmenschlich empfundenen § 218 bezog sie klar Stellung. Ihre offen geübte Kritik an der NS-Justiz sollte sie und ihre Familie bereits im März 1933 zur Flucht aus Deutschland zwingen, die zuerst nach Palästina und schließlich nach London führte.

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Moderne Gretchenträgodie / Mädchen - Liebhaber - Arzt - Hebamme


Um den § 218 wurde gestern von morgens bis in den späten Abend verhandelt; aber es ging um Menschliches.

Angeklagt sind: das Mädchen, der Liebhaber, der Arzt, die Hebamme. Die Aussagen des Mädchens widersprechen denen der anderen. Es steht auf der einen Seite, allein, kämpft den letzten Kampf um und gegen den Mann. Sie ist ein derbes, großes Mädel, mit breiten Hüften, hat ein breites, rotes Gesicht, war ursprünglich ein lustiges, unschuldiges Ding, tüchtig und rasch, ist aus gutem Haus, Pflegekind eines Akademikers. Sie heißt Lotte und nennt sich Hister-Hilmer. So ein Backfisch ist das, das nun das ewig gleiche, bittere Frauenschicksal durchleiden muß.

1923, knapp siebzehnjährig, lernt sie in einem Café „Ihn“ kennen, einen bildhübschen, blonden Jungen. Erst sind sie befreundet, dann geschieht es. Folgen zeigen sich. Sie möchte es gern behalten. „Ich werde dich heiraten, wenn die Folgen verschwinden“, sagt der Freund, „sonst ist Schluß.“ Und so beginnen die Wege, bitterer noch als die Tropfen, zu den Ärzten und Frauen. Endlich wird eine entdeckt. Den Eltern sagt sie, daß sie nach Schlesien reist. Um es ihnen glaubhaft zu machen, reist sie nach Frankfurt a.d. Oder, um dort eine Bahnpostkarte aufzugeben. Dreißig Mark kostet diese Postkarte die beiden. Zum Arzt, sagt das Mädchen, sei sie völlig gesund gekommen, acht Tage später kam sie nach Haus, krank und verpfuscht für ihr Leben. Und während sie noch im Fieber liegt, kommt der Liebhaber und sagt, es muß aus sein, er muß ein reiches Mädchen heiraten. Sie will sich das Leben nehmen. Da schickt er einen Freund mit einem Liebesbrief hin, nachzusehen, ob sie noch lebe. Inzwischen haben die Eltern alles gemerkt und so ein armer Vater geht hin und fordert – ja gut, man wird sich verloben. Schon sind die Gäste geladen, da sagt er wieder ab, durch das Telephon: „Ich hab dich nicht mehr lieb.“ Und so ein armer Vater geht wieder hin und bittet, und das Mädchen bettelt, und der junge Mann lässt sich herbei – Heirat nein, aber weitere Freundschaft. Das Haus wird ihm verschlossen, aber sie liebt ihn und folgt.

Inzwischen hat sie durch die Krankheit die gute Bankstellung verloren, die Zeiten sind schwerer geworden sie kriecht in einer Bar unter, hat sich deklassiert. Nach einem weiteren Jahr ist es endgültig aus. Eine Freundin hat Anzeige erstattet.

Er hat überhaupt nicht geahnt, was bei dem Arzt geschehen sollte. Er dachte, es handle sich um Krankheit, sonst hätte er es nie zugegeben. Aber er hat immerhin die Krankheit bezahlt! Dann aber tritt die Anzeigerin, die Freundin vor. Stenotypistin, von Hause fortgegangen.

Richter: „Warum haben Sie Anzeige erstattet?“

Zeugin: „Das hat die Lotte selbst gewollt.“ Allgemeine Überraschung.

Angekl.: „Ich muß es gestehen, ich war nicht nüchtern und so verzweifelt, von Hause fort, in der Bar, mein Leben verdorben. Ich kann keinen anderen mehr lieben. Der Kurt soll nicht so ohne weiteres darüber hinweg, dachte ich. Es war unüberlegt.“

Die Freundin hat gewarnt. Sie ist lebenslustig und keck gegen Richter und Staatsanwalt, bildhübsch, in einen kostbaren Pelz gehüllt.

Und wie die Freundinnen so dastehen, sind sie die beiden Pole des Frauentums. Die eine kühl, klug, überlegen und skeptisch, ihr passiert keine Liebe: „Sie war ja verrückt“, sagt sie von der anderen. Lieblich, lächelnd und elegant, die geborene Geliebte, die Siegerin. Und die andere, warm, töricht, impulsiv und gläubig, die nur einen lieben kann und will, ein Leben lang, unschön, verweint und zerbrochen.

Schweigen wir vom Medizinischen. Die Angaben des Mädchens waren zwar von innerer Wahrscheinlichkeit, die des Arztes, eines sehr angesehenen Mannes, hingegen unklar, aber sowohl Professor Strauch wie Medizinalrat Dyrenfurth kamen zu einem non liquet.

Der Staatsanwalt beantragte für jeden der Angeklagten sechs Monate Gefängnis, für die Hebamme drei Monate.

Das Mädchen blieb ihren Aussagen treu. „Ich bin schuldig“, sagt sie, „und ich will meine Strafe haben. Aber ich habe die Wahrheit gesagt.“

Auch das Gericht glaubte im wesentlichen ihr.

Die Schuld des Arztes und der Hebamme waren nicht zu erweisen, sie werden deshalb freigesprochen. Die ganze Verachtung aber für die schofle Handlung des jungen Mannes, die jeder rechtlich Fühlende empfinden müsste, sprach aus Urteil und Begründung des jungen Richters.

Das Mädchen hat es getan, weil ihr dafür die Heirat versprochen wurde. Der Mann aber hat sie bewußt einer Lebensgefahr ausgesetzt. Das Gericht ist der Überzeugung, daß er nur die Alimente sparen wollte. Das Mädchen wurde mit zwei Wochen Gefängnis und Bewährungsfrist bestraft.

Der Mann bekam zwei Monate Gefängnis, die zu verbüßen sind.



Quelle: Gabriele Tergit, „Moderne Gretchenträgodie / Mädchen - Liebhaber - Arzt – Hebamme”, Berliner Tageblatt, 8. November 1926 (Abendausgabe); nachgedruckt in Gabriele Tergit, Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923-1933, herausgegeben von Jens Brüning. Berlin: Rotation Verlag, 1984.

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