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M. M. Gehrke und Rudolf Arnheim, „Das Ende der privaten Sphäre” (1930)

Mit kulturkritisch-pessimistischer Tendenz proklamierte die Journalistin Martha Maria Gehrke, die u.a. als Autorin für die Weltbühne sowie als Verfasserin von Ratgeberbüchern tätig war, das „Ende der privaten Sphäre“. Dieses sei eine Folge der Parallelentwicklung von Kollektivismus und „Technisierung des Lebens“ und zeige sich etwa am Eindringen von Rundfunk und Grammophon in den Alltag. Hierauf antwortete der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, damals als Filmkritiker und Kulturredakteur auch für die Weltbühne tätig, deutlich optimistischer; Kollektivismus sei kein „Erzeugnis der Technik“ und könne sich außerdem – als Altruismus aus Eigennutz – auch positiv für das gesellschaftliche Zusammenleben auswirken.

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Das Ende der privaten Sphäre


M. M. Gehrke

Der große Krieg hat, wie jeder Krieg, die Vereinzelung aufgehoben und der Masse zu einer seit langem unvorstellbar gewordenen Wichtigkeit verholfen. Die blieb ihr erhalten, auch als der Krieg zu Ende war; die Masse hat ihr Gewicht erkannt und ist aktiv geworden. Sowjetrußland ist nur das durchgeführteste Beispiel des Kollektivismus; die große Linie ist überall die gleiche.

Wir erleben heute nicht die erste Reaktion der Geschichte auf den Individualismus, erleben nicht zum ersten Mal die Praeponderanz der Masse; aber zum ersten Mal geht ihr parallel eine Entwicklung, die sie von außen her in bisher nicht vorstellbarem Maße unterstützt: die Entwicklung der Technik.

Bevor es Städte gab, war die Isolierung und als deren innere Form und Folge der Individualismus das Naturgegebene. Je mehr und enger die Menschen zusammenkamen, desto stärker wurden die äußeren Voraussetzungen des Kollektivismus. Fast jede neue technische Erfindung bedeutete und bedeutet aber auch eine stärkere Zusammendrängung von Menschen. Man erinnere sich des Unterschiedes von Werkstatt und Fabrik; man vergegenwärtige sich, was es heißt, in der Sänfte, zu Pferde und allenfalls in der Postkutsche oder aber in einem zwanzig Wagen langen Eisenbahnzug zu reisen — nächstliegende Beispiele, die jeder beliebig vermehren mag.

Soweit die Entwicklung vor 1914. Seit dem Kriegsende hat sich die Technisierung des Lebens mit betäubender Schnelligkeit entwickelt. Da ist der Rundfunk, durch den nicht mehr ein paar Hundert oder selbst Tausend Besucher eines Theaters das gleiche Erlebnis haben sondern der Tag für Tag, Abend für Abend, Zehntausende, Hunderttausende von Hörern zum gleichen Programm zwingt.

Zwingt? Aber niemand ist doch gezwungen, ein Rundfunkabonnement zu nehmen! Gewiß nicht. Aber — ganz abzusehen von der unwägbaren Beeinflussung der Massenhaftigkeit an sich — hat es der Nachbar, das Gegenüber, die Partei unter, über, neben mir. Alle haben Lautsprecher, alle öffnen bis in den Herbst hinein ihre Fenster, und sind die im Winter geschlossen, so dringt der vorzüglich reproduzierende Lautsprecher durch alle Wände alter und neuerbauter Häuser in das Zimmer, das einmal meine Burg gewesen ist. Unentwegt höre ich schwarz, obgleich ich nicht im Geringsten die Absicht dazu habe. Schweigt das Radio, so tönt das Grammophon; kein Mietshaus, in dem es nicht in mehreren Exemplaren vertreten wäre, und kein Eigentümer, der nicht das altruistische Bedürfnis hätte, die Umgebung an der Vollkommenheit seiner Platten teilnehmen zu lassen. Denn der Kollektivismus findet einen seiner deutlichsten Niederschläge in der heutigen Vergnügungsform. Vergnügen und Geselligkeit waren für die Mehrzahl von jeher wechselseitig voneinander bestimmt; ist es ein Zufall, daß heute auf Rummelplätzen und in Tanzbars Gesellschaftsklassen vertreten sind, von denen früher höchstens die Männer an solchen Plätzen zu finden waren, und auch die nur heimlich? Ist es ein Zufall, daß heute jeder die verständnisvolle Teilnahme der ganzen Straße an seinen Vergnügungsgeräuschen voraussetzt und daß in jeder solchen Straße immer nur ein Einzelner existiert, der Lautsprecher und Grammophon, Hundegeheul und das Knattern nicht abgestellter Motoren als Eingriff in die private Sphäre auffaßt, aber nicht verhindert, weil er als Einzelner nicht den Mut hat, die spärlichen polizeilichen Verbote zu seinen Gunsten in Anspruch zu nehmen? Eine Mehrheit aber, die sich gestört fühlte und geschlossen gegen die Unruhestifter vorginge — die gibt es bezeichnenderweise nicht.

Es wäre töricht, von einem Ende der privaten Sphäre zu reden, wenn weiter nichts vorläge als die kollektivistische Reaktion auf ein individualistisches Jahrhundert. Erst die Parallelentwicklung der Technik berechtigt dazu. Und angesichts der neuesten Entwicklung mehr denn je. Das Problem des Fernhörens ist so gut wie restlos gelöst, nun halten wir beim Fernsehen. Es ist keine Frage, daß wir auch hier der Praxis bereits recht nahe sind. Schon ist ein Allgemeiner Deutscher Fernseh-Verein gegründet, der „die Förderung der Fernsehens und die Vertretung aller damit zusammenhängenden Interessen ...“ bezweckt. Er wird seine Ziele erreichen, und die Menschheit wird um eine wundervolle Erfindung reicher sein. Aber wird es möglich werden, diese Erfindung so anzuwenden, daß sie der Allgemeinheit dient, ohne die Sphäre des Einzelnen zu stören?

Es wird kaum möglich sein. Schon darum nicht, weil es kaum und jedenfalls nicht genügend Einzelne geben wird, die diese Störung als solche empfinden. Niemand wird gezwungen werden dürfen, sich einen Fernsehapparat anzuschaffen; und wenn er ihn hat, so wird er ihn jederzeit ausschalten können? Aber wer garantiert uns, daß nicht Wellen entdeckt. Apparate erfunden werden, die das Fernsehen ausschließlich in den Willen des, sagen wir einmal: Senders stellen, gegen den sich der Empfänger so wenig schützen kann wie heute ein Kirchturm gegen einen Fernstecher? Utopie? Das Wort hat nach Ergebnissen des letzten Jahrhunderts keine Gültigkeit mehr.

Abwehrmaßnahmen? Sie haben keine Aussicht auf Erfolg, da die Allgemeinheit keine Abwehr will. Schlußfolgerungen? Schlußfolgerungen sollen keine gezogen werden. Es wurde nur versucht, den Beweis zu erbringen, nicht für eine Behauptung sondern für noch nicht ganz bekannte Tatsachen, mit denen wir uns abzufinden haben, jeder auf seine Art.

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