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Hermann Hesse, „Sehnsucht unser Zeit nach einer Weltanschauung” (1926)


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Sehnsucht unser Zeit nach einer Weltanschauung


Dem innerhalb weniger Jahrzehnte vollkommen verwandelten und umgestalteten Bild der Erdoberfläche, den ungeheuren Veränderungen, welche jede Stadt, jede Landschaft der Welt seit der vollzogenen Industrialisierung aufweist, entspricht ein gleicher Umschwung in den Seelen und im Denken der Menschen. Die Jahre seit dem Ausbruch des Weltkrieges haben diese Entwicklung beschleunigt, so daß man ohne Übertreibung schon heute den Tod und Abbau jener Kultur feststellen kann, in welche wir Älteren einst als Kinder hinein erzogen wurden und die uns damals ewig und unzerstörbar erschien. Hat auch der Mensch selbst sich nicht verändert (er kann dies ebensowenig innerhalb zweier Generationen, wie irgendeine Tierart dies könnte), so haben doch die Ideale und Fiktionen, die Wunsch- und Traumbilder, die Mythologien und Theorien, unter deren Herrschaft unser geistiges Leben steht, sich in dieser Zeit ganz und gar verändert. Unersetzliches ist verlorengegangen und für immer zerstört, unerhört Neues wird an dessen Stelle geträumt.

Zerstört und verlorengegangen sind für den größeren Teil der zivilisierten Welt vor allem die beiden Fundamente aller Lebensordnung, Kultur und Sittlichkeit: die Religion und die Sitte. Das Letztere wird jeder ruhige Beobachter ohne weiteres zugeben. Es fehlt unserm Leben durchgehend an Sitte, an einer traditionell überkommenen, geheiligten, ungeschriebenen Übereinkunft über das, was zwischen Menschen schicklich und geziemend sei. Ist auch die Hauptursache dieses Verlustes im Rückgang der bisherigen Religionsformen, in der Zerstörung der Autorität der Kirchen zu suchen, so haben doch auch rein äußere Veränderungen im Leben daran großen Anteil, vor allem die Mechanisierung des Lebens und der menschlichen Arbeit durch die Technik. Der Fabrikarbeiter kann unmöglich die Sitte seiner bäuerlichen Vorfahren bewahren, darüber ist kein Wort zu verlieren.

Man braucht nur irgendeine kleinere Reise zu machen, um am lebendigen Beispiel den Verfall der Sitten beobachten zu können. Überall, wo die Industrialisierung noch in den Anfängen liegt, wo bäuerliche und kleinstädtische Tradition noch stärker sind als die modernen Verkehrs- und Arbeitsformen, da ist auch Einfluß und Machtgefühl der Kirchen noch wesentlich stärker, und an allen diesen Orten treffen wir mehr oder minder unzerstört auch das noch an, was man einst Sitte nannte. In solchen »rückständigen« Gegenden findet man noch Formen des Umgangs, des Grußes, der Unterhaltung, der gesellschaftlichen Stufung, der Feste, der Spiele, welche dem modernen Leben längst verlorengegangen sind. Als schwachen Ersatz für die verlorene Sitte hat der moderne Durchschnittsmensch die Mode. Sie gibt ihm, von Saison zu Saison wechselnd, die unentbehrlichsten Vorschriften für das gesellige Leben, wirft ihm die erforderlichen Modeausdrücke, Schlagworte, Tänze, Melodien zu – besser als nichts, doch immerhin lauter vergängliche Tageswerte. Kein Volksspiel mehr, sondern die modische Unterhaltung der Saison. Kein Volkslied mehr, sondern der Schlager des letzten Monats.

Was nun für die äußere Lebensgestaltung die Sitte ist, die erfreuliche und bequeme Führung durch eine Tradition und Konvention, das ist für die tieferen menschlichen Bedürfnisse die Religion und Philosophie. Der Mensch hat nicht bloß das Bedürfnis, in Brauch und Sitte, in Kleidung und Unterhaltung, Sport und Konversation durch eine gültige, vorbildliche Form, durch irgendein Ideal – sei es auch bloß das Eintagsideal einer Mode – regiert und geführt zu werden. Er hat in den tieferen Schichten seines Wesens auch das Bedürfnis, seinem ganzen Tun und Treiben, seinem Dasein, seinem Leben und Sterbenmüssen einen Sinn gesetzt zu sehen, er verlangt danach, sein Tun und Streben nicht nur durch die augenblickliche Nützlichkeit geregelt, sondern auch durch eine höhere Sinngebung gerechtfertigt, durch ein hohes Ideal geheiligt und angespornt zu sehen. Dies religiöse oder metaphysische Bedürfnis, so alt und so wichtig wie das Bedürfnis nach Essen, nach Liebe, nach Obdach, wird in ruhigen, kulturell gesicherten Zeiten durch die Kirchen und durch Systeme führender Denker befriedigt. In Zeiten wie der heutigen zeigt sich sowohl den überkommenen religiösen Bekenntnissen wie auch den Gelehrten-Philosophien gegenüber eine allgemeine Ungeduld und Enttäuschung; die Nachfrage nach neuen Formulierungen, neuer Sinngebung, neuen Symbolen, neuen Begründungen ist unendlich groß.

In diesem Zeichen steht das Geistesleben unserer Zeit: Schwächung der überkommenen Systeme, wildes Suchen nach neuen Deutungen des Menschenlebens, Aufblühen zahlloser gutbesuchter Sekten, Propheten, Gemeinschaftsgründer, feistes Gedeihen des tollsten Aberglaubens. Denn auch der ungeistige, oberflächliche, dem Denken abgeneigte Mensch noch hat jenes uralte Bedürfnis, einen Sinn seines Lebens zu kennen, und wenn er keinen mehr findet, verfällt die Sitte, und das Privatleben steht unter dem Zeichen wildgesteigerter Selbstsucht und gesteigerter Todesangst. Alle diese Zeichen der Zeit lassen sich für den, der sehen will, in jedem Sanatorium, in jedem Irrenhaus, im Material, das jeder Tag jedem Psychoanalytiker zuträgt, deutlich ablesen.

Aber unser Leben ist ein nie unterbrochenes Gewebe von Auf und Ab, Niedergang und Neubildung, Verfall und Auferstehung, und so stehen all den düsteren und kläglichen Zeichen eines Zerfalles unserer Kultur andere, hellere Zeichen gegenüber, die auf ein neues Erwachen des metaphysischen Bedürfnisses, auf die Bildung einer neuen Geistigkeit, auf ein leidenschaftliches Bemühen um eine neue Sinngebung für unser Leben deuten. Die moderne Dichtung ist voll dieser Zeichen, die moderne Kunst nicht minder. Namentlich aber macht sich das Bedürfnis nach einem Ersatz für die Werte der vergehenden Kultur, nach neuen Formen der Religiosität und Gemeinschaft heftig geltend. Daß es dabei an geschmacklosen und drolligen, auch an gefährlichen und schlechten Ersatzdarbietungen nicht mangelt, ist selbstverständlich. Es wimmelt von Sehern und Gründern, Scharlatane und Kurpfuscher werden mit Heiligen verwechselt; Eitelkeit und Habgier wirft sich auf dies neue, vielversprechende Gebiet – allein diese traurigen oder lächerlichen Nebenerscheinungen dürfen uns nicht täuschen. An sich ist dies Erwachen der Seele, dies wilde Aufflammen einer neuen Gottessehnsucht, dies durch Krieg und Not geschürte Fieber eine Erscheinung von wunderbarer Wucht und Glut, die wir nicht ernst genug nehmen können. Daß neben diesem gewaltigen, durch alle Völker gehenden Seelenstrom der Sehnsucht eine Menge von betriebsamen Unternehmern lauert, die mit Religion Geschäfte machen, darf uns an der Größe, Würde und Wichtigkeit der Bewegung nicht irremachen. In tausend Formen und Abstufungen, vom naiven Geisterglauben bis zur echten philosophischen Spekulation, vom primitiv jahrmarkthaften Religionsersatz bis zur Ahnung wirklich neuer Lebensdeutung wogt der Riesenstrom über die Erde, umfaßt amerikanische Christian Science und englische Theosophie, Mazdaznan und Neu-Sufismus, Steinersche Anthroposophie und hundert ähnliche Bekenntnisse, führt den Grafen Keyserling um die Erde und zu seinen Darmstädter Versuchen, gesellt ihm einen so ernsthaften und wichtigen Mitarbeiter bei wie Richard Wilhelm, läßt daneben ein ganzes Heer von Geisterbeschwörern, Bauernfängern und Spaßmachern entstehen.

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