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Ernst Lorsy, „Die Stunde des Kaugummis” (1926)

Nach der wirtschaftlichen Stabilisierung in Deutschland versuchte der Chicagoer Kaugummi-Konzern Wrigley auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen und errichtete für etwa zwei Millionen Reichsmark in Frankfurt am Main eine Fabrik, die im Juni 1925 fertiggestellt wurde. Im folgenden Text nimmt Ernst Lorsy den Kaugummikonsum zum Anlass, um die vermeintliche Amerikanisierung Deutschlands zu ironisieren. Laut Lorsy beruht der Erfolg der Kaugummis auf der „Macht der Reklame“, die Bedürfnisse erst suggerieren würde. Wie bei etlichen anderen deutschen Kommentatoren mischt sich vordergründiges Erstaunen über die unbestreitbaren industriell-technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der USA mit einer gewissen europäischen Überheblichkeit gegenüber der amerikanischen „Massengesellschaft“.

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Die Stunde des Kaugummis


Als der große Wrigley 1925 in Frankfurt a. M. seine Kaugummifabrik eröffnete, prophezeiten ihm manche einen Mißerfolg. Es habe in Deutschland schon immer Kaugummi gegeben, aber ein richtiger Massenartikel habe es niemals werden können. Und jetzt, nach einem Jahre, ist es offenbar, daß die Schlacht gewonnen werden wird. Im Zeichen des Volksentscheids entzweit, scheinen die Deutschen im Zeichen Wrigleys ein einig Volk von Gummikauern werden zu wollen. Es gibt vielleicht keinen Artikel, dessen Absatz hier während der Stabilisierungskrise so schnell gestiegen wäre wie der des Kaugummis. Der Fordson-Traktor bleibt hinter Wrigleys „Spearmint“ weit zurück. Gummikauen ist die wohlfeilste Art, sich zu amerikanisieren, darum haben die Deutschen von heute, die eine starke Amerika-Sehnsucht in sich tragen, sie eben gewählt. Das heißt: sie sind von den Herren des Kaugummis als ein prädestiniertes Volk auserwählt und erfolgreich behandelt worden. Und heute sind sie kaugummireif. Dies, daß ein Ladenhüter zum Modeartikel werden, daß eine stille kleine Sekte, die unauffällig an einer alten Gewohnheit klebte, zu einer von der Neuheit ihres Tuns überzeugten Massenbewegung anwachsen konnte, zeugt mehr als anderes für die Macht der Reklame. Die Geschichte des Kaugummis ist die Geschichte seiner Ankündigungen und liefert das schlagendste Beispiel für die bedürfnissuggerierende Rolle der Reklame. Augenblicklich steht es wohl noch fest, daß niemand, der nicht will, Gummi kauen muß. Immerhin können in Amerika schon wenig Leute umhin, es zu wollen. Warten wir bloß, bis die deutsche Kaugummireklame, die heute in den Kinderschuhen von drüben halbfertig bezogener Texte steckt, die Höhe der amerikanischen Reklame, nicht ihr irrsinniges Ausmaß, wohl aber ihre Anpassungsfähigkeit und Sicherheit, erreicht hat: es wird dann schwer sein, nicht Gummi zu kauen.

Der Weg, auf dem Kaugummi unaufhaltsam zur modernen Massenseele vordringt, führt über die Eselsbrücke der Weltkriegstrategie über Massenhaftigkeit, über rein zahlenmäßige Häufung, Lange vor Joffre haben die Broadway-Strategen der Lichtreklame um die unwiderstehliche Wirkung eines Trommelfeuers gewußt, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die Großstadt wurde ihnen zum Schlachtfeld, auf dem das Publikum, nach der begründeten Erwartung der Reklame-Hindenburge, mit seinen notwendig schlechteren Nerven schließlich unterliegen muß. Der Großstädter hat sich an manches gewöhnen müssen, seine Reizschwelle rückt zusehends höher und höher hinauf, aber so stumpf wird er niemals werden wie das Wrigley-Männchen, das überhaupt keine Nerven hat. Das Wrigley-Männchen, dessen verschmitzter Trollblick uns neuerdings in unsere Träume verfolgt, tritt den Amerikanern schon seit vielen Jahren von den Glühbirnendächern ihrer Avenuen als nächtlicher Turner in den Weg. Hat man vor einem den Blick gesenkt, schneidet sein Kamerad das Blickfeld. Die Zahl der Wrigley-Männchen beträgt eine kriegsstarke Division, und der Herr dieser Truppe, der Mann Wrigley, ist ein bedeutender Feldherr.

Nicht Wrigley hat das Gummikauen erfunden. Hätte er das, so wäre er vielleicht das Genie, als das Humoristen ihn preisen. Er hat aber die ganzgroße Kaugummireklame erfunden, und schließlich ist ja die Reklame das wesentlichste am Kaugummi, und Wrigley übt durch seine Reklame einen Einfluß auf das Volk von Amerika aus, wie ihn seit Lincoln wenige ausgeübt haben. Will der Bürger der Staaten in seiner Bundeshauptstadt den Kapitolhügel besuchen, so muß er an einem Wrigley-Männchen vorbei. Bei Nacht ist das Kapitol dunkel, und die breite Pennsylvania-Avenue, die zu ihm führt, ist durchaus beherrscht von einem großen, in gelblichem Glanze zuckenden Wrigley-Männchen. Das Wrigley-Männchen besteht eigentlich aus jenen dicken Pfeilen, die Wrigleys Schutzmarke sind, und aufgeregt müllernd beweist es Amerika, daß es zu seiner Beruhigung Wrigleys Gummi kauen müsse. „Wohltuend und erfrischend,“ meint die Lichtreklame, „der Duft haftet,“ deklamiert sie, „parfümiert deinen Atem,“ schreit sie, „fördert deine Verdauung,“ brüllt sie, „erhält deine Zähne,“ keucht sie, „kau es nach jeder Mahlzeit!“, rät sie, mahnt sie, befiehlt sie, droht sie, erpreßt sie. Amerika kuscht und kaut.

Bei einem scharfen Prozeß stellte sich unlängst heraus, daß Wrigley 50 Prozent seines Reingewinnes Jahr für Jahr in Reklame investiere; es lohnt. Das Vermögen William Wrigleys wird auf 140 Millionen Dollar geschätzt. Sein Geschäftsturm am Michigansee ist ein Wahrzeichen Chicagos. Er hat das Gesicht Amerikas mitgestaltet und das Gesicht des Amerikaners mit Schicksalsmächten um die Wette modelliert. Er brüstet sich, in dieses Gesicht den berühmten harten Zug gebracht zu haben, der zwischen den Profilen Cäsars und eines Wiederkäuers glücklich die Mitte hält und den zu haben des Durchschnittsamerikaners Ehrgeiz ist. Trotzki rühmt Wrigley noch ein welthistorisches Verdienst nach. Indem er und seine Konkurrenten die Arbeiter Amerikas Gummi kauen gelehrt hätten, hätten sie ein Hindernis auf dem Wege zur proletarischen Revolution errichtet. Durch andauernde Kieferbewegung komme man nicht zum Denken, zum Nachdenken über seine Klassenstellung, über die Bestimmung der Arbeit, über den Zweck des Lebens. Wrigley muß, wenn er diese Sätze liest, etwas tun, wozu amerikanische Multimillionäre überhaupt neigen: er muß sich für einen Wohltäter der Menschheit halten.

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Quelle: Ernst Lorsy, „Die Stunde des Kaugummis“, Das Tagebuch, Nr. 26 (26. Juni 1926), S. 913-15.

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