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Rudolf Kayser, „Amerikanismus” (1925)

In den Schlagworten „Amerikanismus“ und „Amerikanisierung“ bündelte sich eine ganze Reihe von Stereotypen (etwa das Klischee der vermeintlich „kulturlosen“ USA oder die Charakterisierung als „Massengesellschaft“), Vorstellungen und Projektionen, die durch bestimmte Bilder und Metaphern vermittelt wurden und unterschiedliche Assoziationen und Reaktionen hervorriefen. Zumeist basierten die in den Schlagworten verdichteten Vorstellungen kaum auf persönlicher Anschauung und Kenntnis der USA, sondern auf selektiver (z.T. auch falscher) Wahrnehmung und Verallgemeinerung. Auf einer abstrakteren Ebene dienten „Amerikanismus“ und „Amerikanisierung“ im deutschen Diskurs als Chiffren für die industriell-technische, wirtschaftliche sowie kulturell-gesellschaftliche Moderne. Der Literaturhistoriker Rudolf Kayser, der das Phänomen hier beschreibt, war zu diesem Zeitpunkt Redakteur der Neuen Rundschau, bis er 1935 in die USA emigrierte.

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Amerikanismus


Amerikanismus ist das neue europäische Schlagwort. Es geht ihm wie den meisten Schlagworten: je mehr man sie gebraucht, desto weniger weiß man, was sie bedeuten. Sicher ist, daß hier der Bedeutungsbereich ungeheuer groß ist, daß er über einzelne kleine Erscheinungen weit hinausreicht, daß er den Grundcharakter unseres Zeitalters betrifft. Es besteht also die wertwürdige Situation, daß wir zur Bezeichnung des recht radikalen Wandels unserer äußeren und inneren Lebensformen in den letzten Jahrzehnten keinen anderen Ausdruck haben als den Namen des fremden Erdteils, der uns bisher nicht nur in geographischer Beziehung unendlich fern zu sein schien.

Was ist es also mit dem Amerikanismus?

Sicher hat er nichts oder nur wenig mit dem Amerikaner zu tun, den wir ja weniger kennen als irgendeinen anderen nationalen Typus. Auch als literarischer Typus ist er uns weit weniger vertraut als die Typen Europas und des Orients. Der französische Bürger, der englische Lord, der russische Muschik, der östliche Weise ... sie sind uns durch ihre Literaturen zu greifbarer Wirklichkeit geworden, mit Perspektiven in den seelischen und gesellschaftlichen Aufbau ihrer Nationen. Doch besitzen wir die literarische Gestalt des Amerikaners? Was kennen wir von seinem Schrifttum? Wer liest bei uns die Hergesheimer, Dreiser, Sinclair Lewis, Mencken ...? In Eugene G. O'Neill lernten wir den ersten amerikanischen Dramatiker kennen, und — seien wir ehrlich — er blieb uns fremd.

Aber wir haben anderes: Trusts, Hochhäuser, Verkehrspolizei, Film, Technikwunder, Jazzband, Boxen, Magazine und Regie. Ist das Amerika? Vielleicht. Da ich nicht da war, fehlt mir jedes Urteil. Aber ich weiß, daß die Vorbilder hiervon uns von Amerika gekommen sind. Aber ist dies alles auch schon — Amerikanismus? Sind diese Erscheinungen nicht vielmehr nur die äußeren und geheimnislosen Symptome eines viel heimlicheren, geistigen, seelischen Wesens? Ist Amerikanismus nicht eine neue Daseinshaltung, erwachsen und gestaltet aus unserem europäischen Schicksal? Dies ist eine Frage, die als erste der (vor einem Jahre gestorbene) Wiener Schriftsteller Robert Müller gestellt und so beantwortet hat: „Amerikanismus ist also eine Methode oder eine Schwärmerei.” Und damit sind wir seinem Charakter und seinem Europäertum weit näher gerückt.

In der Tat: Amerikanismus ist eine neue europäische Methode. Wieweit diese Methode von Amerika selbst beeinfußt worden ist, das scheint mir recht gleichgültig zu sein. Sie ist eine Methode des Konkreten und der Energie und völlig eingestellt auf geistige und materielle Realität. Ihr entspricht auch das neue (amerikanisierte) Aussehen des Europäers: bartlos mit scharfem Profil, zielstrebigem Blick, schmalem stählernen Körper; und der neue Frauentypus (der sexuologisch allein nur wenig erklärt ist): knabenhaft, linear, beherrscht von lebendiger Bewegung, vom Schreiten, vom Bein. Ueberhaupt gehört es zur Methode des Amerikanismus, daß er sehr stark im Körperlichen sich ausprägt, daß er Körperseele besitzt. Das bedeutet keineswegs Aeußerlichkeit, sondern nur deutliche Abwendung vom Abstrakten und vom Sentimentalen und Umsetzung auch unserer edelsten Vermögen in jene Konkretheit und wache Lebendigkeit, die der Körper am stärksten offenbart (Sport ist also auch nur ein einzelnes Symptom dieser neuen inneren Haltung). Unabstrakt und unsentimental, also in einem positiven Sinne naiv: so ist die Methode des Amerikanismus, und zwar im seelischen und geistigen Leben ebenso wie im praktischen. Keinerlei Bildungslasten beschweren diese Methode. Sie ist jung, barbarisch, unkultiviert, willenshaft. Sie hat jenen freien und starken Atem, den wir in den Gedichten Walt Whitmans spüren, und der schon Baudelaire bezauberte. Sie folgt keinem abstrakten oder geschichtlichen Ideal, sondern dem Leben. Amerikanismus ist Schwärmerei für das Leben, für seine Diesseitigkeit und seine heutigen Formen.

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