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Felix Gilbert über die Nachwirkungen der Revolution (Rückblick 1988)


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Die Sozialdemokratie hatte eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität gegen den Extremismus gespielt und es nicht zu einer radikalen Revolution kommen lassen. Wenn die Rechte sich aber weigerte, anzuerkennen, daß überhaupt eine Revolution stattgefunden hatte, so mußten diejenigen, die die Revolution nicht nur anerkannten, sondern mit ihr durchaus auch einverstanden waren – und ich gehörte zu ihnen – , zu der Auffassung gelangen, daß dieses Kapitel noch nicht abgeschlossen war.

So ging das Leben in vielerlei Hinsicht weiter, wie es vor der Revolution gewesen war; die Klassenunterschiede blieben sehr deutlich spürbar, wie man ja auch weiterhin darauf bedacht war, daß die Leute mit Rang und Titel angesprochen wurden. Die Niederlage hatte auch dem Ansehen des Militärs nichts anhaben können. Und niemand scheute sich, den durch Kriegsgewinne oder in der Inflation erworbenen Reichtum zur Schau zu stellen. Sicher hatte der Regierungswechsel den Arbeitern manche Verbesserungen gebracht, die Existenz von Gewerkschaften wurde rechtlich anerkannt, und sie begannen Einfluß auszuüben; die Grundlagen für den Wohlfahrtsstaat wurden gelegt. Aber auch das neue Deutschland war keine Gesellschaft von Gleichen und weit entfernt von jener idealen Gesellschaft, die die Revolution angestrebt hatte.

In der jüngeren Generation lebten Unzufriedenheit und eine gewisse revolutionäre Unruhe fort und fanden ihr Ventil in Literatur, Kunst und Theater. Wir lasen leidenschaftlich Bücher von Autoren, die noch nicht in den offiziellen Kanon eingereiht waren. Bei Nietzsche zum Beispiel interessierte mich mehr seine »Genealogie der Moral«, wegen ihres Angriffs auf die Werte der Bourgeoisie, als sein »Zarathustra«. Ich las, wie viele meiner Zeitgenossen, Freud, besonders sein Buch über die Traumdeutung. In diesen Jahren begann ich auch Dostojewski zu lesen, und wir vermeinten in seiner Welt etwas von der revolutionären Atmosphäre Rußlands zu finden; in meinen Augen war »Der Idiot« sein eindrucksvollstes Werk. Nach der ersten Lektüre dieses Romans hatte ich regelrechte Alpträume, und so geht es mir noch heute, nach einem halben Jahrhundert, wenn ich den »Idioten« zur Hand nehme.

Im Kaiserreich waren moderne Kunst und Literatur nicht verboten gewesen, aber die offizielle Mißbilligung war stark genug, ihren Einfluß auf einen kleinen Kreis zu beschränken. Ich erinnere mich an den ungeheuren Eindruck, den die Van-Gogh-Ausstellung von 1920 oder 1921 auf mich machte; sie füllte ein ganzes Ausstellungsgebäude, das ehemalige Kronprinzenpalais. Auch das Theater war in jenen Jahren eine aufregende und revolutionäre Kraft im intellektuellen Berlin.

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