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Gründe für die Entfremdung türkischer Jugendlicher (3. Juni 1993)

Am 29. Mai 1993 setzten jugendliche Skinheads im nordrhein-westfälischen Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand, wobei fünf Bewohner, darunter drei Kinder, getötet wurden. Der folgende Artikel der deutsch-türkischen Autorin Dilek Zaptcioglu-Rogge erschien am Tag der zentralen Trauerfeier für die Opfer. Sie drückt den Schock, die Trauer und die Wut junger Türken über die Welle von rechten Angriffen gegen Ausländer aus, was zu einer Schwächung ihrer Integrationsbereitschaft in die deutsche Gesellschaft führe, da sie sich weiterhin als Bürger zweiter Klasse diskriminiert fühlten.

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„Jetzt weiß ich, daß ich hier keine wahren Freunde habe“
Das Selbstbewußtsein der Türken mischt sich nun mit Verbitterung, Zorn und Aggression



Die mörderischen Überfälle von Mölln und Solingen haben die Türken zutiefst geschockt. Auch in den vergangenen Jahren hatte es Tote auf seiten der Türken gegeben. Ramazan Avci in Hamburg, Mete Eksi in Berlin, Mehmet Demiral in Mülheim wurden von Rechtsextremisten angegriffen und getötet. Aber sie wurden einzeln attackiert; oft kam es zu einem Streit oder zu einer Rauferei, man konnte wenigstens in die Augen seiner Mörder schauen und versuchen, sich zu wehren. Mit den nächtlichen feigen Brandstiftern hat das Ganze eine neue Qualität gewonnen.

Schon Mölln hatte man kommen sehen. Seit zweieinhalb Jahren wurden in Deutschland (Ost und West) Asylbewerberunterkünfte angezündet. Der Fehler der Türken war, daß sie den wachsenden Haß nicht auf sich bezogen und dachten, der richte sich in erster Linie gegen die Asylbewerber. Nach Demonstrationen konnte man Stimmen hören wie „Gott sei Dank sind wir von solchen Überfällen verschont“ oder „wie gut, daß die Deutschen eine schreckliche Vergangenheit haben, aus der sie lernen können“.

Die Überfälle von Mölln und Solingen fallen in eine Zeit, die für die Türken in Deutschland in verschiedener Hinsicht eine Wende markiert. Da ist zum einen die neue Rolle der Türkei in ihrer Region und die politischen sowie ökonomischen Verbesserungen in der Heimat, die ein neues Selbstbewußtsein bei der türkischen Bevölkerung erzeugt haben. Die Türken sind niemals ein Kolonialvolk gewesen und haben in ihrer Geschichte keine Unterwerfung erlitten. Als Nation fühlen sie sich stark und stolz. Die zweite große Veränderung, die in den letzten Jahren eintrat, ist, daß die Mehrheit der Türken in Deutschland sich für ein endgültiges Verbleiben hier entschieden hat. Vor allem die zweite und dritte Generation, die hier aufgewachsen ist, betrachtet Deutschland als ihre Heimat und wollen es nicht mehr verlassen.

Trauer und Zorn sind die richtigen Worte, um die Stimmung unter den Türken in Deutschland zu beschreiben. Sie trauern nicht nur um die toten Landsleute, sondern auch um sich selbst, um ihre in Deutschland verbrachten Jahre und um ihre Zukunft. Die Brücken in die Heimat wurden in dem Glauben, hier auf Dauer heimisch werden zu können, abgebrochen. Jetzt blicken sie in einen tiefen Abgrund, der sich vor ihnen öffnet und so urdeutsche Namen trägt wie Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und Solingen. Die Mörder haben große Keile zwischen die Türken und die Deutschen geschlagen.

„Ich hatte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, nun ziehe ich den Antrag zurück“, sagt eine junge Frau. Eine andere leidet unter Depressionen, seit sie den deutschen Paß bekam. Ein anderer sagt: „Ich dachte, ich käme mit den Deutschen gut aus, jetzt weiß ich, daß ich hier keine wahren Freunde habe.“ Vor allem die Jüngeren sind tief getroffen. „Unsere Eltern haben hier gearbeitet, sie zahlten Steuern und konsumierten viel, sie trugen zum Wirtschaftswunder der Deutschen bei. Wir finanzieren heute den Aufbau in Ostdeutschland mit. Ist das der Lohn dafür?“

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