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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Kritik der Verfassung Deutschlands”, unveröffentlichtes Manuskript (1800-1802)

Wie sein Vorläufer Immanuel Kant hinterließ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) der neueren deutschen Geistes- und Politikgeschichte ein reiches und komplexes Vermächtnis. Von seiner ausgereiften Philosophie lässt sich sagen, dass er die Vernunft der Aufklärung historisierte und dabei das vernunftbegabte Individuum durch Kulturen im herderschen Sinn als entscheidendem Gegenstand der Geschichte ersetzte. Es war der Staat, der Kulturen und die Einzelpersonen in ihnen mit „objektivierter“ Sittlichkeit und einer ihrer historischen Entwicklung angemessenen Freiheit ausstattete. Im geschichtlichen Prozess verwirklichten Menschen, die durch Kulturen und Staaten wirkten, die Fülle ihrer eigenen Freiheit, die zudem die Verwirklichung des Gottesgedankens selbst darstellte. In diesem Text, der zu Lebzeiten Hegels unveröffentlicht blieb, erklärt sein Verfasser – ein junger Professor völlig im Banne des Schauspiels der Französischen Revolution und seiner umwälzenden Auswirkungen in Deutschland – das Heilige Römische Reich für leb- und geistlos und beschwört einen „deutschen Theseus“ herauf, der (wie Napoleon zu dieser Zeit) mit dem Schwert in der Faust handelnd Deutschland unter einer starken Zentralregierung vereinigt. Dennoch müsste angesichts des Freiheitssinns der Deutschen das liberale Prinzip der Volksvertretung ebenfalls zufrieden gestellt werden. Wenngleich es im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts Bismarck war, der die Rolle des Theseus zu spielen schien, übt Hegel in dieser Abhandlung scharfe Kritik an Preußens Versäumnis, für breitere deutsche Interessen einzutreten.

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„Kritik der Verfassung Deutschlands“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel


Deutschland ist kein Staat mehr. Die ältern Staatsrechtslehrer, welchen bey der Behandlung des deutschen Staatsrechts [ . . . ], von der deutschen Verfassung einen Begriff festzusetzen, konnten über diesen Begriff nicht einig werden, biß die neuern es aufgaben, ihn zu finden, [ . . . ]. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle, was nicht mehr begriffen werden kann ist nicht mehr; sollte Deutschland ein Staat seyn, so könnte man diesen Zustand der Auflösung des Staats nicht anders als mit einem auswärtigen Staatsrechtsgelehrten Anarchie nennen; wenn nicht die Theile sich wieder zu Staaten constituirt hätten, denen weniger ein noch bestehendes als vielmehr die Erinnerung eines ehmaligen Bandes noch einen Schein von Vereinigung läßt; [ . . . ].

Die Gesundheit eines Staats offenbahrt sich im allgemeinen nicht sowohl in der Ruhe des Friedens als in der Bewegung des Kriegs; jene ist der Zustand des Genusses, und der Thätigkeit in Absonderung; die Regierung eine weise Hausväterlichkeit, die nur gewöhnliches an die Beherrschten fodert; im Kriege aber zeigt sich die Krafft des Zusammenhangs Aller mit dem Ganzen, wie viel von ihnen fodern zu können er sich eingerichtet hat, und wie viel das taugt, was aus eigenem Triebe und Gemüthe für ihn sie thun mögen. So hat in dem Kriege mit der französischen Republik Deutschland an sich die Erfahrung gemacht, wie es kein Staat mehr ist, [ . . . ] und dessen handgreiffliche Resultate sind der Verlust einiger der schönsten deutschen Länder, einiger Millionen seiner Bewohner [Frankreich hatte 1802 im Frieden von Luneville das linke Rheinufer annektiert], eine Schuldenlast [ . . . ] und daß [ . . . ]noch viele Staaten dasjenige verlieren werden, was ihr höchstes Gut ist, eigene Staaten zu seyn. [ . . . ]

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