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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

Obwohl er sich den Aufklärungsidealen der Freiheit und des Fortschritts hin zur friedfertigen Selbstregierung verschrieben hatte, unterstrich Johann Gottfried von Herder (1744-1803) in seiner Geschichtskonzeption die Schlüsselrolle ethnisch-linguistisch oder religiös definierter Kulturen, die allein einen Zusammenhang für bedeutsames menschliches Wirken (sei es vernünftig oder nicht) schufen. Solche Kulturen bezeichnete er als „Völker“. Die Geschichte erschien somit eher als Wechselwirkung von Kulturen statt einer Aufeinanderfolge (oder eines Chaos) von Religionen, Einzelpersonen oder Staaten. Dadurch prägte Herder entscheidend den Diskurs des frühen Nationalismus in Deutschland, in dem eher die linguistisch-kulturelle Identität als die politische Staatsbürgerschaft die entscheidende Rolle spielte.

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Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Johann Gottfried von Herder


FÜNFZEHNTES BUCH

»Vorübergehend ist also alles in der Geschichte; die Aufschrift ihres Tempels heißt Nichtigkeit und Verwesung. Wir treten den Staub unsrer Vorfahren und wandeln auf dem eingesunknen Schutt zerstörter Menschenverfassungen und Königreiche. Wie Schatten gingen uns Ägypten, Persien, Griechenland, Rom vorüber; wie Schatten steigen sie aus den Gräbern hervor und zeigen sich in der Geschichte.

Und wenn irgendein Staatsgebäude sich selbst überlebte, wer wünscht ihm nicht einen ruhigen Hingang? Wer fühlt nicht Schauder, wenn er im Kreise lebendig wirkender Wesen auf Totengewölbe alter Einrichtungen stößt, die den Lebendigen Licht und Wohnung rauben? Und wie bald, wenn der Nachfolger diese Katakomben hinwegräumt, werden auch seine Einrichtungen dem Nachfolger gleiche Grabgewölbe dünken und von ihm unter die Erde gesandt werden?

Die Ursache dieser Vergänglichkeit aller irdischen Dinge liegt in ihrem Wesen, in dem Ort, den sie bewohnen, in dem ganzen Gesetz, das unsre Natur bindet. Der Leib der Menschen ist eine zerbrechliche, immer verneuete Hülle, die endlich sich nicht mehr erneuen kann; ihr Geist aber wirkt auf Erden nur in und mit dem Leibe. Wir dünken uns selbständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten, müssen auch wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andren sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. Der kluggewordene Greis geht unter die Erde, damit sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe überlasse, mit der auch er sein Leben verzehret. So ketten sich Tage, so ketten Geschlechter und Reiche sich aneinander. Die Sonne geht unter, damit Nacht werde und Menschen sich über eine neue Morgenröte freuen mögen.

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