Über den Ablauf jenes schicksalhaften Montags ist schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden. Ob es nun für diesen Leipziger 9. Oktober einen speziellen Schießbefehl gegeben hat, sei dahingestellt. Auch ist die noch ausstehende Klärung dieser Frage gar nicht von so entscheidender historischer Relevanz, galt doch uneingeschränkt der vom Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Erich Honecker, am 26. September erlassene Geheimbefehl Nr. 8/89, der in Hinblick auf zu erwartende »Krawalle« eindeutig formulierte: »Sie sind von vornherein zu unterbinden.« Und weiter wurde darin unmißverständlich angewiesen, daß »feindliche Aktionen offensiv verhindert werden sollen«.
Wie wortgetreu die Leipziger Einsatzleitung unter Vorsitz des amtierenden 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung, Helmut Hackenberg, diesen Befehl nahm, erwies sich schon am frühen Vormittag. In Betrieben wurde davor gewarnt, nach 16 Uhr die Innenstadt zu betreten; Mütter sollten ihre Kinder bis 15 Uhr aus den Krippen und Kindergärten des Zentrums abholen; Schülern und Studenten wurde mit Relegation für den Fall der Beteiligung an »Aktionen« gedroht. Gerüchte schwirrten durch die Stadt. Man munkelte von MG-Nestern auf zentralen Gebäuden, befürchtete den Einsatz von Fallschirmjägern und wollte erfahren haben, daß der NVA-Hubschrauberstaffel in Cottbus »Führungsbereitschaft« befohlen wurde. Verläßlicher waren Meldungen über Stützpunkte der Sicherheitskräfte im Küchenholz und im Rosental sowie über Vorbereitungen auf dem agra-Gelände in Markkleeberg zur schon am 7. Oktober geprobten Internierung von »Zugeführten«. Kirchen sollten für Flüchtende offengehalten werden, in St. Thomas entstand in fliegender Eile eine Sanitätsstelle. In Krankenhäusern wurden Notbetten aufgestellt und vor allem die chirurgischen und Intensivstationen verstärkt besetzt. Tausende von zusätzlichen Blutkonserven standen bereit. [ . . . ]
Leipzig glich an diesem Tag einem Heerlager. Nach späteren Aussagen von Bereitschaftspolizisten war ihnen vormittags mitgeteilt worden, daß ein friedlicher Ausgang der Demonstration wenig wahrscheinlich sei und sie vorbereitet sein müßten, möglichen Gewalttätigkeiten zu begegnen. Dementsprechend trugen sie Kampfausrüstung: Helme mit Visier und Nackenschutz, Schilde, Gasmasken (Tränengas war in großen Mengen herangeschafft worden), Schlagstöcke und sogenannte RWKs (Reizwurfkörper); Offiziere waren mit Pistolen bewaffnet, auch Hundestaffeln eingesetzt. Auf dem Hof der VP-Bezirksbehörde standen »aufmunitionierte« Schützenpanzerwagen bereit, die tonnenschweren Stahlkolosse ausgerüstet mit Räumschilden, die Fahrer mit MP und je sechzig Schuß Munition. Die Polizeitruppe zählte insgesamt dreitausend Mann, davon zwölfhundert zur Verstärkung aus den Bezirken Halle und Neubrandenburg herbeibeordert. Hinzu kamen noch fünf Hundertschaften von Betriebskampfgruppen sowie eine sicher vierstellige Anzahl von Einsatzkräften des Ministeriums für Staatssicherheit, dessen Arsenale nicht nur Handfeuerwaffen bargen. [ . . . ]