GHDI logo


Die Evangelischen Kirchen und der Osten (15. Oktober 1965)

In der kontroversen Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ forderte die zu diesem Zeitpunkt noch gesamtdeutsch organisierte Leitung der Evangelischen Kirchen zu einer kritischen Überprüfung der Ostpolitik auf und verlangte indirekt die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und damit der Nachkriegsgrenzen Polens.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn


[ . . . ]

VI. Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe

Die Überprüfung der völkerrechtlichen und der theologisch-ethischen Aspekte hat gezeigt, daß die Frage der deutschen Ostgrenzen sich nicht mit absoluten Argumenten des Rechtes und der Ethik, mit den Mitteln einer Theologie der Schöpfung und der Geschichte lösen läßt. Von hier aus kann nur eine Hilfe für Entscheidungen geleistet werden, denen das deutsche Volk und seine Nachbarn nicht ausweichen können. Es handelt sich dabei um politische Entscheidungen, die in vernünftiger Einschätzung der Situation und in verantwortungsvoller Mitarbeit an einer dauerhaften Friedensordnung zwischen den Völkern getroffen werden müssen. Die in dieser Denkschrift dazu aufgeführten rechtlichen, ethischen und theologischen Überlegungen, die auch in ein politisches Handeln eingehen müssen, sollen dahin wirken, eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes hineinzubringen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten.

In diesem Dialog geht es konkret um die Fragen, wieweit die Vertriebenen ein Recht auf Rückkehr in die alte Heimat haben und wieweit ein Recht auf Rückgabe der abgetrennten Gebiete besteht. Es ist unvermeidlich, beide Fragen in den gehörigen politischen und geschichtlichen Gesamtzusammenhang von heute zu stellen. Eine künftige haltbare Friedensordnung kann im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn nur im Zeichen eines neuen Anfanges verwirklicht werden. Über den gegenwärtigen Zustand einer so gut wie völligen Entfremdung und gegenseitiger Furcht- und Haßgefühle hinaus muß es zu einer Versöhnung kommen, die auch zwischen Völkern möglich ist. Dem Frieden der Welt und einer Neuordnung Europas sind die beteiligten Völker ein äußerstes Maß an Anstrengung schuldig, die zwischen ihnen stehenden Fragen unter Berücksichtigung der beiderseitigen Standpunkte zu erörtern und neu zu regeln.

Die politische Führung der Bundesrepublik hat in diesen Fragen eine mehr abwartende Haltung gezeigt und immer wieder den eigenen Rechtsstandpunkt vertreten. Für diese Zurückhaltung gab es, wie man zugeben muß, wichtige innenpolitische Gründe. Die Unterstellung eines Viertels des früheren deutschen Staatsgebietes unter fremde Verwaltung und die Vertreibung der Bevölkerung aus ihr stellen an die nationale Disziplin des ganzen Volkes so hohe Anforderungen, daß die Gefahr einer nationalistisch bestimmten Radikalisierung jedenfalls nicht von der Hand zu weisen war. Daß eine solche Radikalisierung bis heute ausgeblieben ist, ist ein sehr bemerkenswerter Zug der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Opfer, die von dem deutschen Volk erwartet werden, leistet es nur, wenn es geschichtlich denkt und sich darin der Einsicht in eine höhere Notwendigkeit beugt. Diese Einsicht aber kann erst allmählich heranreifen. Auch auf der internationalen Ebene hat eine zögernde Behandlung der deutschen Ostgebiete seitens der verantwortlichen Politik der Bundesrepublik ihre guten Gründe. Sie kann von dem in der westlichen Welt völkerrechtlich als gesichert geltenden Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 ausgehen. Eine vorzeitige definitive Anerkennung der im Potsdamer Protokoll von 1945 getroffenen Regelungen gilt als politisch unkluge Preisgabe wertvoller Grundlagen und Objekte künftiger Friedensverhandlungen.

In dieser abwartenden Haltung kommt zugleich der richtige Grundsatz zum Ausdruck, daß die im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen geschehene Okkupation der Ostgebiete und die Übertragung ihrer Verwaltung an einen anderen Staat sich nicht ohne weiteres in eine völkerrechtlich und politisch gleichermaßen unvertretbare einseitige Annexion verwandeln kann und daß das Unrecht der Vertreibung nicht mit Stillschweigen übergangen werden darf. Die hier strittigen Fragen und alle territorialen Änderungen bedürfen gemeinsamer vertraglicher Regelungen. Der Wert dieser Regelungen ist von der beiderseitigen Einsicht in ihre Notwendigkeit und von der beiderseitigen Zustimmung zu dem damit angestrebten neuen Anfang abhängig. An dieser Stelle wird auch deutlich, daß der negative Begriff »Verzicht« eine ganz und gar unzulängliche Bezeichnung für den deutschen Beitrag zu einer Friedensregelung ist, die eine neue Partnerschaft zwischen Völkern begründen soll. Wenn die künftige Regelung der Gebietsfragen das Verhältnis zwischen den beteiligten Völkern stabilisieren soll, dann muß sie das Ergebnis eines wirklichen Dialogs und Ausdruck des Willens zur Versöhnung sein.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite