I. Brief an Hugh R. Wilson, Amerikanische Botschaft, Berlin
Amerikanisches Konsulat
Stuttgart, Deutschland, 12. November 1938 Nr. 307
Betreff: Antisemitische Verfolgung im Stuttgarter Konsularbezirk
The Honorable Hugh R. Wilson, Amerikanischer Botschafter, Berlin
Sir:
Ich habe die Ehre, Ihnen Bericht zu erstatten von den Schicksalsschlägen, die die Juden Südwestdeutschlands in den letzten drei Tagen erlitten haben und die dem Bewohner eines aufgeklärten Landes im 20. Jahrhundert irreal erscheinen würden, hätte man die schrecklichen Erfahrungen nicht selbst miterlebt und wären diese nicht durch mehr als eine Person von unbestreitbarer Integrität bestätigt worden. Zur Seelenpein, der die Juden in diesem Konsularbezirk seit geraumer Zeit ausgesetzt sind und die sich am Vor- und Nachmittag des 10. November schlagartig zuspitzte, kamen das Grauen der mitternächtlichen Festnahmen, des überstürzten Aufbruchs in Polizeibegleitung in halb angekleidetem Zustand, des Klagens der so plötzlich allein gelassenen Frauen und Kinder, der Unterbringung in überfüllten Zellen und der Panik der Mitgefangenen.
Diese Massenverhaftungen stellten die Zuspitzung eines leidvollen Tages für die Juden dar. Das Entweihen und Anzünden der Synagogen setzte vor Tagesanbruch ein und hätte ein Warnsignal sein sollen für das, was in den darauf folgenden Stunden kommen sollte. Um 10.30 Uhr wurden etwa 25 Führer der Jüdischen Gemeinde von einem gemeinsamen Kommando von Polizisten und Männern in Zivil festgenommen. Die verhafteten Personen waren zwischen 35 und 65 Jahre alt und wurden in zwei Kraftwagen vom Israelitischen Oberrat zum Polizeirevier gebracht. Auf dem Weg vom Gebäude zu den Autos wurden die Opfer von Schaulustigen beschimpft und angeschrieen.
Andere Festnahmen fanden in Stuttgart an verschiedenen Orten statt. Während Stuttgart den ganzen Tag über Schauplatz vieler antisemitischer Bekundungen war, wurden ähnliche Vorkommnisse aus ganz Württemberg und Baden gemeldet. Hier wie dort kam es zu Übergriffen auf Juden. In der Zwischenzeit war die Panik der jüdischen Bevölkerung so stark angewachsen, dass Juden aus allen Teilen Deutschlands bei der Öffnung des Konsulats nach dem Tag des Waffenstillstands* das Büro stürmten, bis es vor Menschen überquoll. Sie bettelten um ein sofortiges Visum oder um ein Schreiben im Zusammenhang mit ihrer geplanten Auswanderung, das sie vor der Verhaftung und Belästigung durch die Polizei schützen könnte. Frauen über sechzig flehten im Namen ihrer an irgendeinem unbekannten Ort festgehaltenen Männer. Amerikanische Mütter deutscher Söhne appellierten an die Sympathie des Konsulats. Jüdische Väter und Mütter mit Kindern im Arm hatten Angst, ohne ein Papier, das ihre baldige Auswanderung bestätigte, nach Hause zu gehen. Männer, in deren Häusern in den vergangenen Tagen alte rostige Revolver gefunden worden waren, schrieen, dass sie es nicht wagten, an ihre Wohnorte oder Arbeitsplätze zurückzukehren. Es war in der Tat eine brodelnde Masse von Panik erfasster Menschheit.
* 11. November, Gedenktag des Waffenstillstands im 1. Weltkrieg – Hg.