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Dolf Sternberger erklärt den Begriff des „Verfassungspatriotismus” (1979)

Als Ersatz für den diskreditierten Nationalismus schlägt der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger den Begriff „Verfassungspatriotismus” vor, um so eine demokratische Grundlage für das Bekenntnis zur Bundesrepublik zu schaffen, das stärker auf den Werten der Verfassung als auf ethnischer Zugehörigkeit gegründet ist.

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Verfassungspatriotismus


Es herrschte kaum Begeisterung vor dreißig Jahren, als der Parlamentarische Rat die Arbeit abschloß. Was die Bevölkerung angeht, so erfuhr sie nicht allzu viel davon, wurde auch nicht aufgerufen, ihr Votum abzugeben. Die Mitglieder dieser verfassungsgebenden Versammlung ihrerseits taten ihr Werk eher in einer gedrückten Seelenanlage. Es war nur ein Teil der Nation, für den sie handeln konnten. So meinten viele von ihnen, auch dem Staat, den sie widerstrebend schufen, einen bloß vorläufigen oder bloß interministerischen Charakter aufprägen zu sollen. Der klanglose Name »Grundgesetz« zeugt von solcher Zurückhaltung. Man sprach gleichsam mit gedämpfter Stimme, arbeitete mit zögernden Händen – in der Trauer um die Zertrennung der Nation, in der zagen Hoffnung auf einen künftigen freien Akt des ganzen Deutschlands.

Noch immer trauern wir, noch immer hoffen wir. Doch ist den nationalen Gefühlen seither ein helles Bewußtsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes zugewachsen. Die Verfassung ist aus der Verschattung hervorgekommen, worin sie entstanden war. In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet. Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.

Alle spüren es, die meisten wissen es, einige freilich wollen es partout nicht wahrhaben, daß hier die Luft der Freiheit weht. Man muß nur begreifen, daß es keine Freiheit geben kann ohne Staat. Und keine Menschenrechte außerhalb des Staates, der sie nämlich in Bürgerrechte verwandelt. Und keinen Staat ohne Behörden. Überhaupt sollen wir uns nicht scheuen, das Wort »Staat« zu gebrauchen. Das Wort »Demokratie« kann kein Ersatz dafür sein, es führt eine Träumerei mit sich, als ob es eigentlich auch ohne Regierung ginge, wenn man das Volk nur machen ließe. Darum ist es besser, sich vor Augen zu halten, daß es in unserem Verfassungsstaat nicht das »Volk« ist, das »sich selbst« regiert, daß es darin vielmehr Regierende und Regierte gibt, eine Minderheit von Regierenden und eine Mehrheit von Regierten. Das ist unaufhebbar. Aber diese Regierten sind zugleich die Wähler, und diese Regierenden sind die Gewählten; die Regierenden hängen in gewisser Weise und in gewissem Maße von den Regierten ab. In jenen sonderbaren Vereinen, die politische Parteien heißen, sind Regierende und Regierte, Bewerber und ihre Anhänger miteinander organisatorisch verbunden. Die Parteien sitzen in den Parlamenten, bilden kooperierende und konkurrierende Mannschaften, treten in aller Regel in wechselseitiger Kritik auseinander, in einen regierenden und eine opponierenden Teil. Wir haben eine Auswahl, ein Wechsel im Regierungsamt ist möglich, wenn auch mühsam. Im Bund hatte zwanzig Jahre lang die eine, zehn Jahre lang die andere Gruppierung die Führung inne.

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