Rückkehr in die Wirklichkeit
Wohin treibt die Protestbewegung? Eine zweifelsfreie Antwort auf diese Frage ist schon wegen der zeitlichen und räumlichen Nähe zu diesem Phänomen unmöglich. Zu vielschichtig und vieldeutig sind die erkennbaren Ansätze, Motivationen und Richtungen: zu atemlos verlief auch die Entwicklung; zu schnell ging die Zeit über so vieles hinweg, was der kulturkritisch orientierten Sozialwissenschaft beinahe schon als „gesicherte Erkenntnis“ galt.
Man braucht sich nur an die mit missionarischem Eifer bis weit in die sechziger Jahre hinein verkündete These vom „Ende der Ideologien“ zu erinnern. Was blieb davon zurück, wenn man am Ende dieses Jahrzehnts Bilanz zog? Nicht nur, daß sich bei uns in der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre im Gefolge der wirtschaftlichen Rezession eine neue Rechtspartei etabliert hatte. Es war auch, und zwar als weltweite Bewegung, eine „Neue Linke" entstanden, deren Kritik sich gerade an der Ideologiefeindlichkeit der Industriegesellschaft, an der Saturiertheit der älteren Generation, an der Nüchternheit und dem Alltagspragmatismus der Politiker, an der überall vorherrschenden Wohlstandsorientierung entzündete.
Was bleibt, wenn wir uns heute die „Glaubenssätze" der frühen siebziger Jahre vergegenwärtigen? Wenn wir an glatte Formeln wie Reideologisierung, Polarisierung, Anarchie und Klassenkampf denken?
Ist heute, 1975, die ideologische Durchdringung weiter Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, Indoktrination und politische Polarisierung, Klassenkampf und Anarchie in Schulen und Hochschulen tatsächlich noch das zentrale Problem?
Was jedem zunächst ins Auge fällt: Außerhalb der Mauern unserer Hochschulen, vielfach auch innerhalb, ist es merklich stiller geworden. Vorbei die sterile Aufgeregtheit, die revolutionäre Hektik, der Überschwang der Gefühle. Vorbei aber auch die Leichtigkeit, der Optimismus, das Genialisch-Unbekümmerte, das für diesen kollektiven Aufbruch aus der verhaßten Vaterwelt zu Beginn durchaus charakteristisch war; zählte die Neue Linke doch zunächst weit mehr Künstler und Dichter zu ihren Sprechern als Politiker und Verbandsfunktionäre. Dies hat sich gründlich geändert. Nicht mehr der begabte Einzelgänger, der kritische, belesene, originell und scharfzüngig artikulierende Individualist beherrscht die Szene, sondern der – häufig wohlgescheitelte – hölzerne, gleichwohl gut präparierte Schmalspurdogmatiker eines SED-nahen „Marxismus-Leninismus".